Tanja Paar. Die zitternde Welt (2020)
www.wikipedia.org
Es lohnt, die Danksagung der Autorin zuerst zu lesen. Die Hauptfiguren seien frei erfunden. (Die historisch belegten Personen wie Gertrude Bell, Lawrence von Arabien, Nazim Hikmet u.a. . . lösen bei den Lesenden vor allem aus Filmen gespeiste Bilder und Assoziationen aus.)
Die Schauplätze und die zeitlichen Eckpunkte der Handlung sind real. Die alle Ebenen verbindende Achse ist die Bagdadbahn. Ihr Bau diente vor dem Ersten Weltkrieg vor allem den strategischen Interessen des Deutschen Reiches. Erst 1940, 52 Jahre nach dem Baubeginn, erreichte der erste „Taurus Express“ den Zielbahnhof Bagdad. In der Zwischenzeit galt das Interesse vor allem dem Bau von Pipelines für den Transport des begehrten Erdöls aus dem Irak Richtung Westen.
Wegen der lang anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen in dieser Region war die Autorin für ihre Recherche auf Archive, Bibliotheken, Filme, Erzählungen u.a. angewiesen.
Der Roman ist in 2 Teile und einen Epilog gegliedert.
Maria, aus der Gegend um Schärding stammend, folgt hochschwanger dem Linzer Bauingenieur Wilhelm, dem Vater ihres Kindes, an die Baustelle der Bagdadbahn. (Geheiratet wird erst viele Jahre später.)
In der ersten Phase lebt die wachsende Familie (zwei Söhne, ein Kleinkind verstorben, eine Tochter) in einer idyllischen, gebirgigen Gegend Anatoliens. Sie wird von einheimischen Bediensteten freundlich umsorgt. Der Umzug in die nächste größere Stadt bringt Wohlstand und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.
Mit dem Sommer 1914 ändert sich die Situation der Österreicher mit den kaum Deutsch sprechenden Kindern, die als Bürger des Osmanischen Reiches gelten, dramatisch. Die Söhne werden unter geänderter Identität in das grauenhafte Geschehen des Krieges katapultiert.
Die Tochter ist bei den Eltern in Wien. (Wer ihr leiblicher Vater ist, schlängelt sich in Andeutungen und Gewissheiten durch den Roman.) Die in jeder Hinsicht prekäre Situation der Zwischenkriegszeit verlangt der kleinen Familie viel ab. In Istanbul, der Hauptstadt der Republik Türkei, führt der zweitgeborene Sohn ein wechselvolles Leben.
Im Epilog sucht er schließlich in der Schlucht nahe des ersten Wohnhauses innere Ruhe.
Die Faszination, die sich bei der Lektüre ab der ersten Zeile einstellt, entspringt der schwebenden, offenen Erzählweise. Unfassbar, welche Herausforderungen diese Menschen verarbeiten und bewältigen müssen. Querverbindungen zur Gegenwart stellen sich ein.
https://www.haymonverlag.at/produkt/8112/
die-zitternde-welt/
https://www.literatur-blog.at/2021/05/tanja-paar-die-zitternde-welt/
Der deutsche Imperialismus am Beispiel der Bagdadbahn:
https://holzmann-bildarchiv.de/wp-content/uploads/2014/12/Die-Bagdadbahn.pdf
https://www.grin.com/document/901363
https://www.welt.de/welt_print/
article3416391/
Volldampf-voraus-an-
Euphrat-und-Tigris.html
Zusatzinformationen:
Oktober 1898 Treffen des deutschen Kaisers Wilhelm II mit Theodor Herzl in Jerusalem.
https://www.israelnetz.com/kommentar-analyse/2018/10/31/herzl-und-der-deutsche-kaiser/
Karl May (1842-1912)
Arbeitsweise: https://www.sueddeutsche.de/kultur/karl-may-kunst-der-montage-1.3840321
Karl May war vom Mythos Eisenbahn fasziniert. Daher mangelt es den Schauplätzen seiner Fantasie nicht an packenden Eisenbahnszenen.
Der sogenannte Orientzyklus ist eine Serie von Romanen des Schriftstellers Karl May. Die zugrundeliegenden Erzählungen erschienen, teils mit Unterbrechungen, zwischen 1881 und 1888 in der Zeitschrift Deutscher Hausschatz in Wort und Bild bei Friedrich Pustet in Regensburg.
In den Jahren 1899 und 1900 bereiste Karl May erstmals tatsächlich den Orient.
https://www.karl-may-wiki.de/index.php/Von_Bagdad_nach_Stambul
_(GR3)
Bernardine Evaristo. Mädchen, Frau etc. Roman (BookerPrize 2019)
Übersetzung: Tanja Handels
Das Buch zu den aktuellen Debatten im Vereinigten Königreich und anderswo!
Zwölf schwarze Frauen aller Generationen und sexueller Orientierungen, durch familiäre oder auf andere Weise verbunden, werden in zwölf kreisförmig angelegten Porträts vorgestellt. Jeder Figur wird ein eigener „Ton“ gegeben, der reicht von der Sprache der Bankerin bis zur vulgären Ausdrucksweise einer Heranwachsenden. (Lob an die Übersetzerin!) Jede Stimme läuft in einem Fluss ohne Satzzeichen durch – nur durch Absätze gegliedert. Das Ende des Kapitels wird mit einem Punkt gekennzeichnet. Die Mehrheitsgesellschaft wird ebenso ironisch gezeichnet wie die jeweilige Hauptfigur und ihre Familie. Woraus entspringt der Humor? Aus der viel zitierten Diversität des Kernlandes des ehemaligen Empires! Große Leseempfehlung an uns Mitteleuropäerinnen (Männer mitgemeint)!
https://www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/
Maedchen_Frau_etc./135435
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/
bernardine-evaristo-girl-woman-other-100.html
Monika Helfer.
Die Bagage (2020) Vati (2021)
Die Autorin aus Vorarlberg veröffentlicht seit vielen Jahren feinsinnige Texte. Vor einem Jahr erreichte sie größte Aufmerksamkeit mit diesen beiden kurzen Romanen. Sie beziehen sich auf die Geschichte ihrer eigenen Familie.
Bagage: Ihre Großeltern leben mit einigen Kindern am äußersten Rand eines Bergdorfes. (Die Zuschreibung „Bagage“ bezog sich ursprünglich auf das Tragen von Lasten.) Beide unterscheiden sich durch ihre dunklen Haare und die feinen Gesichtszüge von den Dorfbewohnern. (siehe: Walser) Dann beginnt der Erste Weltkrieg und der Mann kehrt nur selten zu kurzen Heimaturlauben zurück. Dann wird Grete, die Mutter der Erzählerin, geboren. An sie richtet der Vater nie ein Wort . . .
Vati: Der Vater der Erzählerin, ein großer Liebhaber von Büchern, möchte so genannt werden, weil das „modern“ klingt. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrt er mit Beinprothese und mit vielen seelischen Verletzungen zurück. Grete lernt er in einem Lazarett kennen . . .
Es ist die Erzählweise, die sofort in ihren Bann zieht: Sie besteht aus Erinnerungsskizzen, Fragen, Mutmaßungen, Deutungen der wenigen Fotos, aus Briefen und Gesprächen mit den Geschwistern. (Ihrem verstorbenen Bruder Seppi ist der nächste Roman gewidmet.)
Es gibt keine letztgültigen Erklärungen, es öffnet sich viel Raum für persönliche Überlegungen.
Anna Seghers. Transit. Roman. (1944.Span. Engl.Französ.,1947/48 in Deutsch)
Transit. Spielfilm. Regie: Christian Petzold (2018)
https://commons.wikimedia.org/
wiki/File:Romtrireme.jpg
Die häufig gestellte Frage nach Identität, Zugehörigkeit, Heimat relativiert sich bei der Auseinandersetzung mit den Biografien der Autorin und ihrer Familie:
Sie wird 1900 als Netty Reiling in Mainz geboren. (Der Namenswunsch der Eltern war Jeanette. Der Name sei viel zu französisch, meinte der Beamte.) Das Thema ihrer Dissertation ist „Jude und Judentum im Werke Rembrandts“. Als Pseudonym für ihre frühen Erzählungen wählt sie den Namen eines niederländischen Malers und Radierers, der auch Rembrandt beeinflusste: Hercules Pieterszoon Seghers.
Ihr aus Ungarn stammender Gatte (Studium in Budapest und Heidelberg) ändert seinen Namen auf Johann Lorenz Schmidt. Der 1926 in Berlin geborene Sohn wird als (Peter) Pierre Radványi ein anerkannter französischer Physiker. Die zwei Jahre jüngere Ruth, eine spätere Ärztin, liebt es, wenn ihr die Mutter im mexikanischen Exil aus Homers Odyssee vorliest.
Die Familie flieht 1933 aus Deutschland nach Paris. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Paris im Juni 1940 wird der Vater verhaftet und in Internierungslager im Süden Frankreichs gebracht. Anna Seghers gelingt mir ihren Kindern die Flucht bis Marseille. Der mexikanische Generalkonsul lässt dieser Familie – Anna Seghers erreichte die Freilassung des Gatten – wie weiteren 40 000 Flüchtlingen Visa ausstellen. Im März 1941 können sie Europa in Richtung Mexiko-Stadt verlassen. Im Exil beendet sie die Arbeit an dem Roman „Das siebte Kreuz“. 1943 erfährt sie von der Ermordung ihrer Mutter im März 1942 in Piaski. Nach einem schweren Autounfall schwebt sie lange zwischen Leben und Tod. Die meisterhafte Erzählung „Ausflug der toten Mädchen“ entsteht. 1944 erscheint der Roman „Transit“ zuerst in Spanisch, Englisch und Französisch, 1948 in deutscher Sprache.
1947 kehrt Anna Seghers nach Berlin zurück. . .
Ruth bemüht sich nach dem Tod der Mutter 1983 in Ostberlin das Andenken an diese große Schriftstellerin lebendig zu erhalten.
http://www.anna-seghers.de/biographie_mainz.php
https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Objekte/seghers-transit.html?single=1
https://www.google.com/search?
q=jenseits+des+stroms.+
erinnerungen+an+meine+
mutter&rlz=1C9BKJA_enAT915AT916&oq=jenseits+des+str&aqs
=chrome.1.69i57j0l4j69i60.9625j0j7&hl
=de&sourceid=chrome-mobile&ie=UTF-8
https://literaturkritik.de/id/8574
https://www.ila-web.de/ausgaben/198/als-erstes-suchten-sie-uns-immer-eine-schule
http://www.tierradenadie.de/archivo/
literatura/seghers/radvanyi2.htm
Transit. Roman.
„Zu diesem Buch“ (Ungekürzte Ausgabe. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. August 1966): Marseille 1940 – Welthafen im noch unbesetzten Frankreich, letzte Zuflucht der Versprengten, Gehetzten, Verfolgten Europas. Tausende kämpfen verzweifelt um Schiffspassagen, Visa, Transits. Alle haben nur einen Wunsch: fort von dieser bedrohten Küste . . . .
Hervorragende Analyse: https://www.youtube.com/watch?v=
rdKhcJihBFQ
Ein 27-jähriger Deutscher sitzt im Frühjahr 1941 in einer Pizzeria am Hafen von Marseille (zur Erinnerung: die Geschichte der Marsellaise!) und erzählt einem Unbekannten, was er in den letzten Monaten erlebt hat. Er blendet auch kurz auf das Jahr 1937 zurück, als er aus einem KZ geflohen ist. Am Schluss des Romans kehrt die Handlung wieder zur Pizzeria zurück. Die Erzählweise mäandert um eine Reihe von Personen, die das Bemühen eint, sich in Sicherheit zu bringen. Dass der Ich-Erzähler durch die Annahme der Identität eines durch Suizid verstorbenen Dichters ein Visum für Mexiko erhält, verbindet ihn plötzlich mit dem Schicksal einer rätselhaften Frau. Neben Selbstzweifel und Fragen an den „Zuhörer“ faszinieren die philosophisch anmutenden Überlegungen zur Geschichte der Stadt und der dort seit jeher ankommenden und abfahrenden Menschen.
Diese Erkenntnisse lassen den Titel des Romans in mehreren Deutungen schillern, er weist weit über den Erwerb eines schnöden Papiers hinaus.
Transit. Der Film
Wenn der Regisseur über den Film spricht, erwähnt er immer seinen Kollegen Harun Farocki, zu dessen Lieblingsbüchern dieser Roman ebenfalls gehörte. Die filmische Umsetzung scheiterte lange Jahre an den Überlegungen, eine zeitgemäße Übertragung jenseits der gängigen Muster von Literaturverfilmungen zu finden. Nach dem unerwarteten Tod des Künstlers 2014 nahm sich Petzold des Stoffes noch einmal an.
Seine Überlegungen sind in den Interviews nachzulesen. Der Wechsel der „Erzählperspektive“ vom Ich-Erzähler zu einer Spielhandlung mit Voiceover-Zitaten aus dem Roman überzeugt ebenso wie der Kunstgriff, die Handlung im heutigen Ambiente (incl. Polizeiautos) anzusiedeln und die Akteure mit zeitloser Kleidung auszustatten. Es faszinieren die feinfühlige Arbeit des Regisseurs und die Nuancen der schauspielerischen Darstellung. Die Betrachter verlassen die gewohnte Distanz und empfinden eine tiefe Verbundenheit mit den Personen in ihrer Lebenssituation. Als Beispiel diene das von Georg (Franz Rogowski) zunächst stockend vorgetragene, ehemals von seiner Mutter gesungene Lied: Schmetterling kommt nach Haus. . . Ameise rast nach Haus (Hans Dieter Hüsch. Abendlied)
https://www.transit-der-film.de/interview-christian-petzold.php
https://www.lyrix.at/t/hanns-dieter-husch-abendlied-568
https://www.deezer.com/de/track/14600664
https://www.youtube.com/watch?
v=IoRUYZUXkzU
https://library.oapen.org/bitstream/handle/
20.500.12657/22561/1007595.pdf?sequence=1
Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole
Lea Singer. La Fenice (2020)
Der Phönix/la fenice ist ein mythischer Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt, um aus dem verwesenden Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen.
Tizian: La Bella, um 1535/36 Palazzo Pitti, Florenz
Wer diesen Roman gelesen hat, wird von nun an Venedigs Palazzi mit anderen Augen sehen. Als Beispiel sei der im 18. Jahrhundert begonnene, schließlich aber unvollendet gebliebene Palazzo Venier dei Leoni genannt. Er wurde 1949 von Peggy Guggenheim erworben und ist seit 1980 als Museum der Öffentlichkeit zugänglich.
Lorenzo Vernier (1510-1550), aus einer der alten Adelsfamilien der Stadt stammend, ist jene historisch belegte Figur, die wegen einer Zurückweisung durch die Kurtisane La Zaffetta (in Anlehnung an ihren Ziehvater, einen wegen seiner Unbestechlichkeit zum Zaffo=Spitzel degradierten Mann) grausame Rache übt.
Eigenartig, wie er ging. Ich stand auf dem Balkon und ärgerte mich, dass ich immer noch hinstarrte . . . Sein Nacken, ein kräftiger Nacken für einen Mann Anfang zwanzig, der nicht arbeitet, wirkte angespannt, auch sein Rücken. Er ging wie jemand, der sich anpirscht aus dem Hinterhalt, alle Sinne auf ein einziges Ziel gerichtet und darauf bedacht, dass keiner vorzeitig wittert, was er vorhat . . .
Er lässt sich einige Zeit später mit dieser Frau nach Chioggia rudern. Nach einem üppigen Mahl kommt es zu einem damals häufig durchgeführten „Trentuno“, einer Massenvergewaltigung, die die meisten Frauen nicht überleben. (Dieser Mann hatte die Chuzpe, dieses Verbrechen unter dem Titel „La Zaffetta“ als fiktionales Versepos zu publizieren.)
Die 16-jährige Angela/Giulia del/dal Moro überlebt. Den Erzählungen ihrer Mutter glaubt sie zu entnehmen, dass sie von dem Adeligen Antonio Grimani bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde.
Sie erholt sich und beherzigt den folgenden Satz ihres Ziehvaters:
›Was du für dein Recht hältst, ist das, worauf du dich niemals verlassen solltest. Falls du es tust, rechne mit allem‹, hatte mein Vater gesagt.
Mit neuem Selbstvertrauen „erhebt sie sich“, nützt ihren Kontakt zu Pietro Aretino (u.a. Verfasser der als „kleines Kamasutra der Renaissance“ bezeichneten erotischen Sonette). Neue vermögende Kunden, oft deutsche Kaufleute, ermöglichen ihr eine luxuriöse Ausstattung ihres Salons.
Tizian (1488/1490 – 1576) wählt sie als Modell für drei herausragende Gemälde, deren Auftraggeber bekannt sind:
1. Mädchen im Pelz, um 1534 Kunsthistorisches Museum, Wien
2.Venus von Urbino, um 1535 Uffizien, Florenz
3. La Bella, um 1535/36 Palazzo Pitti, Florenz
Erst auf den dritten Blick sah ich es, Tizian hatte etwas verändert. Jetzt war die Strähne über meiner Schulter hauchdünn gelb verschleiert. Es war das Gelb eines kleinen Schleiers, den ich im Freien trug. Jede Käufliche und jeder Jude mussten auf der Straße etwas Gelbes tragen . . .
Erzählt wird in Rückblenden aus der Perspektive der inzwischen 23-jährigen Giulia. Sie hat bereits früh erkannt, dass für Frauen ihrer Gesellschaftsschicht die einzige Möglichkeit ein Leben in „Freiheit“ zu führen, der Beruf der Kurtisane ist.
Wie nebenbei erfährt man viele, teils erschreckende Details über La Serenissima Repubblica di San Marco, deren politischer Stern im östlichen Mittelmeer bereits am Sinken ist. Bei den wechselnden Allianzen aus Machtkalkül spielt immer öfter das Osmanische Reich eine Rolle. (Die Schlacht von Lepanto 1571 steht noch bevor.) Deutsche Kaufleute bringen Luthers Lehre nach Venedig.
Folgerichtig ist am Schluss zu lesen:
Es gibt für mich nur zwei Gründe, etwas aufzubewahren: dass es schön ist oder nützlich.
Mit Geschichten ist es genauso.
Veniers Geschichte wurde bereits mehrfach aufgelegt. Ob meine jemanden findet, der sie druckt, bezweifle ich. Vielleicht in ein paar Hundert Jahren . . . Ich wette, weder der Pranger noch die Veniers dieser Welt werden bis dahin ausgestorben sein . . .
Porträts von und Hintergründe zu historisch belegten Personen:
https://kampaverlag.ch/lea-singer-la-fenice/
Ausblick:
Veronica Franco (1546-1591) bekannteste Kurtisane und Dichterin ihrer Zeit
http://www.sophie-lexikonderphilosophinnen.de/html/franco.html
Artemisia Gentileschi (1593-1656) bedeutende italienische Malerin
https://orf.at/stories/3183699/
Eva Gesine Baur (* 11. August 1960 in München)
ist eine deutsche Kulturhistorikerin und Schriftstellerin.
Fiktionale Literatur, vor allem Romane vor einem
musikhistorischen Hintergrund (z.B. Giuseppe Verdi,
Paul Wittgenstein, Vladimir Horowitz), schreibt sie unter
dem Pseudonym Lea Singer. www.wikipedia.org
Mariam Kühsel-Hussaini. Tschudi. Roman (2020)
Spargel nach Édouard Manet
Tschudi war ganz in Schwarz. Er war sehr groß von Wuchs, sehr kräftig, sehr auffällig. Er lächelte selten, fast nie und doch war sein Mund sehr fein gefasst . . .
Sein Herkommen aus einer der ältesten Familien der Schweiz – die zurückreichte, als in Europa noch die Lex Salica galt, . . . macht ihn zu einer vornehmen, in Berlin einzigartigen, geradezu unnahbaren Figur . . . und nun sogar Direktor der Nationalgalerie, dem Museum für deutsche Kunst. . .
Jedoch nicht in Paris, nicht in Frankreich, wo die Bilder herkommen, nein hier in Berlin. Der preußisch deutschen Hauptstadt unter Kaiser Wilhelm II., einem Hasser dieser neuen Malerei und das ist allen bekannt, auch Tschudi, Hugo von Tschudi. Der noch heute eine Sonderausstellung eröffnen wird.
Die Neuerwerbungen französischer Impressionisten, gekauft in Paris, ausgesucht mit Max Liebermann, der Kaiser hat es bezahlt, der Kaiser und befreundete Geldgeber Tschudis, das aber weiß Wilhelm II. noch nicht. Aus: Leseprobe rowohlt e-Book
Das Zweite Deutsche Kaiserreich (seit 1871, siehe Gemälde Anton Werner. Die Proklamierung des deutschen Kaiserreichs, im Spiegelsaal von Schloss Versailles) schwelgt nach dem militärischen Erfolg gegen Frankreich im neuen nationalen Selbstbewusstsein, will sich beim Wettlauf der Großmächte um die wirtschaftliche, politische und militärische Aufteilung der Erde einen „Platz an der Sonne“ sichern. Die Kunst soll in den Dienst des nationalen Taumels treten, das Nationalmuseum ausschließlich deutscher Kunst, die diese Anforderungen erfüllt, vorbehalten bleiben.
Dr. Hugo von Tschudi, zunächst von Wilhelm Bode (siehe Bodemuseum!) gefördert, wird 1896 Direktor der Nationalgalerie in Berlin.
Unter seinen Vorfahren gibt es zahlreiche Gelehrte: Im 16. Jh erwähnte Aegidius Tschudi im „Chronicum Helveticum“ die Sage von Tell. Goethe wurde 1775 auf einer Reise in die Schweiz auf diesen Stoff aufmerksam und reichte ihn an Schiller weiter.
Johann Jakob von Tschudi war Arzt, Naturforscher, Sprachwissenschafter und Reiseschriftsteller. Er erwarb 1848 den Jakobshof in Lichtenegg in der Buckligen Welt. Dort wurde 1851 sein Sohn Hugo geboren. (In diesem Ort wurde der 1911 Verstorbene im Grab seiner Eltern beigesetzt.) Aus den Standardwerken über Südamerika des Vaters wird an prägnanten Stellen des Romans zitiert.
Tschudis familiärer Hintergrund, seine Bildung (Jusstudium mit Promotion in Wien, daneben Kunstgeschichte) und Geisteshaltung machen ihn zum Vertreter einer Generation, die den Weg in ein neues Zeitalter bereiten könnte.
Seine Überzeugung ist, dass die Stilmittel der Moderne in der Malerei durch ihre Präsentation in Museen (und nicht in Privatvillen) neue Sichtweisen und Denkmöglichkeiten anbieten.
Seine immer weiter fortschreitende „Wolfskrankheit“ wird inzwischen hinter einer Halbmaske verborgen. Umso intensiver bemüht er sich um die Aufwertung Berlins als moderne Großstadt. Sein Freundeskreis (die Namen lesen sich wie ein Who is Who? einer Kulturgeschichte), seit 1900 seine aus Spanien stammende Gattin „Ela“ und sein 1901 geborener Sohn Hans Gilg verleihen ihm ungeahnte Energie: Er verfasst u.a. das erste deutschsprachige Buch über Édouard Manet, besucht Rodin, lässt weitere Werke der Pariser Moderne ankaufen, organisiert Ausstellungen, z.B. die vielbeachtete Jahrhundertausstellung deutscher Kunst (1906).
Den in den meisten Belangen überforderten Kaiser beeinflussen immer stärker die Kräfte, welche die Ablöse des renommierten Wissenschafters betreiben.
Den schließlich verordneten Urlaub nützt er zu einer Studienreise nach Japan und wechselt 1909 nach München. Durch eine Stiftung, bekannt als „Tschudi-Spende“, sind in der Neuen Pinakothek bis heute herausragende Gemälde der französischen Moderne zu bewundern.
Dieser Roman vermittelt einerseits deprimierende, oft ironisch gebrochene Einblicke in die Denkmuster der sogenannten Elite, vor allem Wilhelm II., vor dem Ersten Weltkrieg. Andererseits lernen wir Kreativität und Esprit vieler Vertreter aus Kultur (köstlich: das Bild des frühen Gerhart Hauptmann) und der Sponsoren aus der Wirtschaft (Mendelssohn) kennen.
Tschudis Reden oder Beschreibungen gerade erworbener Gemälde sind faszinierende Beispiele hoher Geistes- und Sprachkunst. Es lohnt sich, Abbildungen dieser Gemälde vor sich liegen zu haben.
Die Sprache des Romans bedient sich vieler Stilmittel, die als impressionistisch zu bezeichnen sind. Auf diese Weise werden die schillernde, geistvolle Persönlichkeit Hugo von Tschudis, der mit jeder Faser an die Rolle der Kunst glaubte und der im Grunde bedauernswerte Herrscher im Umfeld ihrer Epoche zu neuem Leben erweckt.
https://www.rowohlt.de/autor/
mariam-kuehsel-hussaini.html
https://de.wikipedia.org/wiki/
Hugo_von_Tschudi
http://www.lichtenegg.gv.at/Tschudihof_1
https://www.srf.ch/play/tv/sendung/ literaturclub?id=7d4e63a6-9e39-454e-a3b4-9a74f7dc7e50
https://www.fr.de/kultur/literatur/mariam-kuehsel-hussaini-tschudi-mann-maske-13645498.html
https://www.fixpoetry.com/feuilleton/
kritik/mariam-kuehsel-hussaini/tschudi
Josef Haslinger. Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich
(1987. Überarbeitete Neuausgabe 1995)
Josef Haslinger, 1955 im Waldviertel geboren, Schüler des Sängerknabenkonvikts Stift Zwettl, Matura an einem öffentlichen Gymnasium, promovierter Germanist (Die Ästhetik des Novalis), lehrt seit 1996 am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird er durch seine schriftstellerische Tätigkeit, u.a. Opernball (1995, verfilmt 1998),
Das Vaterspiel (2000, verfilmt 2009, Regie: Michael Glawogger, gest. 2014),
Phi Phi Island (2007) und
Mein Fall (2020).
1986 (2 Jahre vor dem Gedenk/Bedenkjahr an 1938), der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten, gilt als wichtige Drehscheibe in der Geschichte der 2. Republik.
Das 4x4 große „Waldheimpferd“ schaffte es in das am 10. Nov. 2018 eröffnete Haus der Geschichte Österreichs.
https://www.hdgoe.at/
Den Autor und Wissenschaftler Haslinger interessierte die „Tiefenstruktur“ hinter dem Wahlverhalten. Er wählte die traditionsreiche Form des Essays (geistreiche Abhandlung, in der wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinem jeweiligen Thema. Wikipedia.org).
„Politik der Gefühle meint Politik als ästhetisches Verfahren, als eine Sache des Geschmacks; genauer: Politik nach dem Verfahren der Warenästhetik, der Produktwerbung. . . Freilich hatte es Politik immer schon mit Gefühlen zu tun, grundsätzlich geändert aber hat sich ihr Einsatz im politischen Kalkül.“ (s.41)
In der pandemiebedingten Ausnahmesituation lohnt es, diesen immer noch aktuellen Text zu lesen.
https://www.fischerverlage.de/buch/
josef_haslinger_politik_der_gefuehle/
9783596123650
https://www.bpb.de/apuz/165744/zur-rolle-von-emotionen-in-der-demokratie
Thomas Mann. Tod in Venedig.
Novelle (1911/1913)
«Ein Mann aus der österreichischen Provinz, der sich zu seinem Vergnügen einige Tage in Venedig aufgehalten, starb, in sein Heimatstädtchen zurückgekehrt, unter unzweideutigen Anzeichen, und so kam es, dass die ersten Gerüchte von der Heimsuchung der Lagunenstadt in deutsche Tagesblätter gelangten.»
http://www.gutenberg.org/cache/epub/
12108/pg12108.html
Diese Auskunft erteilt ein Angestellter eines Reisebüros in Venedig an Gustav von Aschenbach, einen nicht mehr jungen Schriftsteller in einer Sinnkrise. (Mann verleiht ihm in Aussehen und Wesen Ähnlichkeiten mit Gustav Mahler. 1910 war Thomas Mann bei der Uraufführung der 8.Sinfonie in München anwesend.)
Forschungen ergaben, dass Katia und Thomas Mann vom 24.Mai bis zum 2. Juni 1911 am Lido von Venedig im Grand Hotel des Bains „weilten“.
Der vom Ehepaar verehrte Gustav Mahler war am 18. Mai in Wien verstorben.
Zu ihrer täglichen Zeitungslektüre gehört auch die «Neue Freie Presse». Diese informiert täglich detailliert über die nächste Welle der sogenannten indischen/asiatischen Cholera.
Berichte über den 45-jährigen „Postoffizianten“ Anton Franzky aus Waltendorf bei Graz sind auch in deutschen Zeitungen zu lesen. Er war nach dem 21. Mai in Venedig nach dem Verzehr von Muscheln und/oder Austern erkrankt und hatte bereits am 23. Mai die Heimreise angetreten. Sein Hausarzt wies ihn als Choleraverdächtigen ins Krankenhaus ein, wo er einer Cholerabaracke zugewiesen wurde. Alle Personen, mit denen er Kontakt hatte, wurden isoliert. Das Haus und auch der Zug, mit dem er gereist war, wurden desinfiziert. Anton Franzky verstarb, er wurde am evangelischen Friedhof beigesetzt. Die engsten Verwandten durften erst anschließend von ihm Abschied nehmen.
In den folgenden Tagen und Wochen wird von den Versuchen der italienischen Behörden zu beschwichtigen und zu vertuschen berichtet. (1911 wird es in Venedig 250 Choleraopfer geben.)
Der medialen Aufmerksamkeit sind die verfrühte Abreise des Ehepaars Mann aus der Stadt und viele einer Seuche vorbeugende Maßnahmen in Österreich-Ungarn und Deutschland zu verdanken.
Thomas Rütten https://www.nzz.ch/article9WST2-1.321796
Thomas Mann ist 36 Jahre alt, seit 1905 mit Katia, geb. Pringsheim, verheiratet, drei seiner insgesamt sechs Kinder sind geboren, seine homoerotischen Neigungen sind kein Geheimnis.
Der sehr erfolgreiche Roman Buddenbrocks. Der Verfall einer Familie war 1901 erschienen (1929 wird er dafür den Nobelpreis erhalten.) Neue Schreibprojekte stocken. Außer der beängstigenden Erfahrung der Nähe der Seuche bewegt den Autor in Venedig der ungefähr 13-jährige Sohn einer polnischen Adelsfamilie. Das liest sich in der Novelle so:
„Sein Antlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck von holdem und göttlichen Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit.“ http://www.gutenberg.org/cache/epub/
12108/pg12108.html
Die prägenden Erlebnisse dieser Wochen bändigt Thomas Mann in der strengen Form der Novelle. (ital. novella: Neuigkeit. Vgl. „Falkennovelle“ aus: Decamerone. Goethe 1827: „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit“)
Neben den autobiographischen Elementen spiegelt dieser Text einige Personengruppen der Gesellschaft Europas am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Die Kunst der Décadence (Fin de Siècle) thematisiert immer wieder die Verzweiflung sensibler Künstlerfiguren mit den Stilmitteln des Ästhetizismus. Die oft der antiken Mythologie entlehnten Motive, u.a. des Todes (Granatapfel, Boot) und der Leidenschaft (Dionysos) verbinden sich mit Venedig als Topos. (1883 war hier Richard Wagner verstorben.)
Der Autor äußert vor der Veröffentlichung Einwände:
Novelle, ernst und rein im Ton, einen Fall von Knabenliebe bei einem
alternden Künstler behandelnd. Sie sagen „hum, hum!“ aber es ist sehr anständig.
https://de.wikipedia.org/wiki/
Der_Tod_in_Venedig
https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/
land-und-leute/eros-und-cholera-voswinckel100.html
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/
buecher/100-jahre-tod-in-venedig-pervers-was-fuer-ein-pfuscherisches-wort-11829625.html
Der Novelle ist bis zur Gegenwart ein großer Erfolg beschieden.
1971 diente sie Lucchino Visconti als Grundlage für seinen Film in englischer Sprache. „Morte a Venezia“. Aschenbach ist Komponist, die Anlehnung an Gustav Mahler wird nicht nur die Hauptfigur, dargestellt von Dirk Bogarde, betont, sondern vor allem durch die Verwendung von Mahlers 5. Sinfonie als durchgängige Filmmusik. Zu den Originalschauplätzen zählt auch das Grandhotel des Bains.
https://www.youtube.com/watch?
v=SU1mBBM0pzw
1973 fand die Uraufführung von Benjamin Brittens Oper in zwei Akten „Death in Venice“ statt.
https://www.youtube.com/watch?
v=vKvgEE3zMig
Giovanni Boccaccio *1313 in Florenz oder in Certaldo +1375
Il Decamerone/ Das Dekameron. Eine Sammlung von 100 Novellen.
Boccaccio, Il Filostrato. Handschrift,
14. Jahrhundert (Codex Christianei, Hamburg)
In Neapel verließ G.B. den vom Vater gewünschten Berufsweg in Bank- und Handelsangelegenheiten. Am Hof des Königs kam er in Kontakt mit Kunst und Literatur. Tiefe Einblicke in das städtisch-bürgerliche Leben verschafften ihm seine Tätigkeiten in unterschiedlichen Ämtern in Stadtrepubliken. Das Interesse an der Antike (Renaissance) und ein neues Bild vom Menschen (Humanismus) teilte er mit vielen Zeitgenossen.
Um 1348 war auch Italien von einer Pestepidemie betroffen. In den folgenden Jahren entstand das bekannteste Werk des Autors: Das Dekameron.
(Griechisch deka=zehn und hemera=Tag, also Zehntagebuch)
Der Rahmen: In Fiesole, unweit von Florenz, versammeln sich in einem Landhaus mit einem großen Park zehn junge Adelige (7 Frauen, 3 Männer). Sie sind aus Florenz vor der Pest geflüchtet. Es wird vereinbart, sich die Zeit mit Musik, Tanz und dem Erzählen von Begebenheiten zu vertreiben. Pro Tag gibt eine Person ein Thema vor. So entstehen10x10 Erzählungen (siehe Titel).
(B. betont, diese Geschichten nicht erfunden zu haben. Schauplätze, Handlungen, Personen weisen auf Quellen von der Antike bis zu mittelalterlichen Texten hin.)
Auch in unseren Tagen sei die Lektüre dieser faszinierenden, vielfältigen Geschichten, in denen die Erotik nie zu kurz kommt, empfohlen.
Sie boten vielen Generationen aller Kunstgenres Inspiration.
Beispiele für Filme:
1.1971 Pier Paolo Pasolini. Il Decameron https://www.youtube.com/watch?v=
8pKEyuOsF4w2.
2. 2014 MARAVIGLIOSO BOCCACCIO
Regie: Paolo Taviani, Vittorio Taviani www.youtube.com/watch?v=TN2SYvERZro
Katja Oskamp
Marzahn, mon amour: Geschichten einer Fußpflegerin (2019)
Welchen Fingerzeig gibt uns eine 1970 in Leipzig/DDR geborene Schriftstellerin mit diesem Titel? Etwa auf den 1959 erschienenen ersten Spielfilm des bisherigen Dokumentarfilmers Alain Resnais „Hiroshima, mon amour“ (Drehbuch: Marguerite Duras)?
Marzahn ist in der Vorstellung vieler Menschen als triste Großsiedlung in Plattenbauweise verankert. In der Zeit ihrer Entstehung ab den späten 1970er Jahren galt sie als erstrebenswerte Alternative zu den tristen Altbauten Ostberlins.
Genau dort beginnt eine Mittvierzigerin, als Schriftstellerin in eine Sackgasse geraten, nach einem kurzen Einschulungskurs als Fußpflegerin zu arbeiten. Hierbei lernt sie unterschiedlichste Lebensläufe kennen. Die Erinnerungen streifen u.a. die Flucht als 7-jähriges Mädchen aus Ostpreußen, den Alltag in der DDR. Der Bruch in den Lebensläufen durch die „Wende“ ist stets spürbar. Jüngere Personen haben nicht immerihren Platz im Leben gefunden.
Aus einem Interview mit der Autorin. Diese Geschichten entstammen ihrem realen Leben.
In deinem Buch porträtierst du die Menschen, die du behandelst, sozusagen von ihren Füßen her gesehen. Was sind das für Menschen?
Das sind meistens alteingesessene Marzahner, die viel zu erzählen haben. In ihren Biografien findet sich der berühmte Bruch, den viele Ostdeutsche erfahren haben. Dreißig Jahre nach der Wende sind das atemberaubende individuelle Schicksale geworden, die wiederum etwas eint: die Konfrontation mit Alter, Krankheit, Verlust. Meine Kunden sind mutig und tapfer und sie berlinern zauberhaft. Manche sächseln auch allerliebst. Die, denen es am schlechtesten geht, sind erstaunlicherweise die heitersten.
Es sind Menschen, die eher nicht vorkommen, wenn über das Land gesprochen wird, oder?
Sie sind nicht in Mode. Sie haben keine Lobby. Sie leben einfach ihr Leben. Wie die allermeisten von uns.
Es ist auch eine Liebeserklärung an Marzahn, ein Plattenbau-Viertel, das vor vierzig Jahren aus der Erde gestampft wurde. Damals stand es für einen Aufbruch in die Zukunft. Und heute? Kannst du Marzahn für alle Nicht-Berliner kurz erklären?
Nach der Wende wurde aus dem Aufbruch ein Abbruch und Marzahn stand bald für Unterschicht, Ghetto und Hartz IV. Inzwischen ist Marzahn längst besser als sein Ruf. Und obwohl es immer noch behauptet wird: Hier laufen keine Neonazis herum, hier werden auch keine Autoreifen zerstochen. Vieles funktioniert besser als zum Beispiel in Kreuzberg. Die Hausmeister sind freundlich, die BSR leert die Mülleimer bevor sie überquellen, die Grünanlagen sind gepflegt. Ich erlebe Marzahn als einen friedlichen und aufgeräumten Ort, fast ein bisschen dörflich.
Die Geschichten, die du erzählst, sind sehr komisch und zugleich sehr berührend. Ist das – das Komische und das Anrührende – das Wesen des Menschseins an sich?
Ob ein Mensch eine komische oder tragische Figur ist, liegt immer im Auge des Betrachters. In unserem Marzahner Studio kommt es zu sehr lustigen und zu sehr ergreifenden Szenen, manchmal alles gleichzeitig. Aus diesem Blickwinkel erzähle ich die Dinge, weil sie sich mir so zeigen. . . .
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/marzahn-mon-amour/978-3-446-26414-4/
Link: 5 Fragen an“
Den „Rahmen“ bilden die Lebenssituationen der drei Frauen des Salons, die weite Anreise der Ich-Figur, die Pausen im Arbeitsalltag, ein Ausflug der Chefin des Salons mit ihren beiden Angestellten zu einer nahen Therme. Auch diese Kapitel fesseln durch präzise Beobachtungen der Natur, des sozialen Umfeldes. Mit melancholisch-humorvollem Grundton werden viele Lebensweisheiten vermittelt. (In diesem Zusammenhang fällt auch ein Satz mit den Titel des Buches.)
https://www.suhrkamp.de/buecher/
hiroshima_mon_amour-marguerite_duras_46906.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Marzahn
Katja Oskamp im Talk mit Jörg Thadeusz:
https://www.youtube.com/watch?v=
LLpfFZpKNeI
Filmtipp: Die Friseuse. Regie: Doris Dörrie. (2010) Hauptfigur Kathi: Gabriela Maria Schmeide (siehe: Frau Müller muss weg. Regie: Sönke Wortmann. 2015)
Trailer: https://www.youtube.com/watch?
v=YhefRBDhvEg
Siegried Lenz (✻1926, Lyck, Ostpreußen, heute Polen – ✢2014, Hamburg) Deutschstunde. Roman (1968) Deutschstunde. Film. (in deutschen Kinos ab 3. Oktober 2019, dem 30.Tag der Deutschen Einheit) Regie: Christian Schwochow
Lenz gehört zu jenen Autoren seiner Generation, die wegen ihres politischen Engagements einer breiten Öffentlichkeit bekannt waren.
Ein köstliches Leseerlebnis bieten bis zur Gegenwart die Erzählungen aus "So zärtlich war Suleyken" (1955), angesiedelt im Dorf Suleyken in den Masuren.
Als 1968 der Roman „Deutschstunde“ erscheint, fügt sich das Thema perfekt in die Stimmung dieser Jahre: Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg gibt ein junger, straffällig gewordener Mann zum Aufsatzthema „Die Freuden der Pflicht“ zunächst ein leeres Blatt ab. Während der folgenden Wochen in Einzelhaft füllt er viele Hefte mit der Geschichte seines Vaters, eines Dorfpolizisten.
Der über 500 Seiten starke Roman hat einen außergewöhnlicher Erfolg im deutschsprachigen Raum, viele Lizenzen für Übersetzungen folgen. Eine Taschenbuchausgabe ebnet dem Text den Weg in den Kanon des Deutschunterrichts. Bereits 1971 erfolgt die erste Verfilmung.
50 Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage präsentiert der Regisseur Christian Schwochow (Jg. 1978) eine beeindruckende, zweite Verfilmung.
Das Wattenmeer hat die Menschen geformt. Sie sind verschlossen, wortkarg und hart in jeder Hinsicht. Sie könnten die inzwischen erwachsenen Kinder aus Hanekes „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ (2009) sein.
Ulrich Noethen als Vater und Tobias Moretti als Maler (der Roman gibt deutliche Verweise auf Emil Nolde, die in diesem Film fehlen) beweisen ihr herausragendes Talent in Rollen, in denen ihnen Extremsituationen abverlangt werden.
Sowohl die Darsteller des jungen als auch des in einer Jugendstrafanstalt einsitzenden Siggi Jepsen vermitteln Ratlosigkeit und Entschlossenheit angesichts der ständigen Bedrohung durch Repression und Gewalt.
"'Deutschstunde wird so zu einer universellen Parabel, die uns nicht in der Sicherheit wiegt, eine abgeschlossene Geschichte zu verfolgen." Er habe gemeinsam mit seiner Mutter, der Drehbuchautorin Heide Schwochow, versucht, "das Exemplarische noch zu verstärken, um diese Geschichte in die Gegenwart zu holen."
https://www.dw.com/de/weltpremiere-deutschstunde-nach-siegfried-lenz/a-50609005
Trailer: https://www.vienna.at/deutschstunde-kritik-und-trailer-zum-film/6373930
https://www.stern.de/kultur/buecher/siegfried-lenz-ein-trauriger-80--geburtstag-3497378.html
Robert Menasse. Die Hauptstadt. (2017)
Man wähle 5 beliebige, Europa-bezogene Schlagzeilen der Woche, der dazu passende Handlungsstrang findet sich auch in Robert Menasses Roman „Die Hauptstadt“: Lebensläufe, die im griechischen Teil Zyperns, in Österreich, Deutschland, Belgien, Polen, in der Tschechoslowakei, Italien, UK beginnen, münden in langfristig aktuelle Themen.
Der Autor komponiert mit seinen Figuren einen europäischen „Epochenroman“ nach strengen mathematischen Prinzipien (Bach- Fuge?) rund um Schauplätze (wichtig: Stadtplan Brüssel) und Zeitachsen entlang einiger Leitmotive (Unglaublich, welche Möglichkeiten ein durch die Stadt irrendes Schwein eröffnet).
Wer bei der durch Pausen unterbrochenen Lektüre den Überblick verloren hat, dem/der sei folgende Vorgangsweise empfohlen:
1. Inhalt und Hauptfiguren: https://www.dieterwunderlich.de/Menasse-hauptstadt.htm
2. Das Hörbuch, gelesen von Christian Berkel (geb. 1957 in Berlin, Schauspieler, Synchronsprecher, Hörbücher, Hörspiele. Familiengeschichte: Der Apfelbaum)
Es wird überraschen, welche zusätzliche Vielfalt das Auditive eröffnet. Die Nuancen aller Sprachebenen werden in Deutsch, Englisch, Flämisch, Französisch, Polnisch etc direkt erlebbar. In besonderen „Szenen“ dieses „Marstheaters“ (Karl Kraus über „Die letzten Tage der Menschheit“ 1915-1922, ab 1965 gelesen von Helmut Qualtinger) wird die immer wieder aufflackernde ironische Sicht „hörbar“. Wieder einmal stellt sich die Frage:
Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? (Thomas Bernhard. 1967)
Der Kommissionspräsident aus „Die Hauptstadt“ nennt als Lieblingsbuch Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ (erschienen ab 1930). Es lohnt, diese beiden Werke in Beziehung zu einander zu setzen.
Der letzte Satz des Romans lautet: »Á suivre.« (Fortsetzung folgt) Das kann sowohl Versprechen sein, als auch Drohung. Denken wir über Europa nach und handeln, bevor es zu spät ist. https://lustauflesen.de/menasse-die-hauptstadt/
https://www.profil.at/kultur/grosse-unterhaltung-robert-menasses-roman-hauptstadt-8296519
https://www.derstandard.at/story/
2000063486433/die-hauptstadt-von-robert-menasse-bruesseler-mosaik
https://www.zeit.de/2017/37/robert-menasse-die-hauptstadt-roman
Interview:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/
schriftsteller-robert-menasse-die-welt-steht-politisch-kopf.1270.de.html?dram:article_id=448730
https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-robert-menasse-versuch-der-geschichtsfaelschung.700.de.html?
dram:article_id=437305
Weitere Hörbücher:
http://www.oepb.at/allerlei/qualtinger-liest-karl-kraus-die-letzten-tage-der-menschheit.html
Hörbuch gelesen von Wolfram Berger https://www.der-audio-verlag.de/hoerbuecher/der-mann-ohne-eigenschaften-musil-robert-978-3-86231-537-6/
Kenah Cusanit. Babel. (2019)
Ischar-Tor Berlin
Mit einem schalkhaften Lächeln antwortet die Autorin auf die Frage, weshalb sie sich für die Altertumskunde entschieden habe, wahrscheinlich habe sie in ihrer Jugend zu viele Digedags gelesen. Das sind die Haupthelden in einer von 1955-1975 erscheinenden DDR-Comic-Zeitschrift. Sie erleben Abenteuer im Orient, in der Römerzeit, im Weltraum etc.
Kenah Cusanit wurde 1979 in Blankenburg im Harz geboren, 1855 auch der Geburtsort von Robert Koldeway. Er gelangte ab 1913 durch die Freilegung des Turms von Babylon zu später Bekanntheit. Er steht im Mittelpunkt dieses für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans.
Mit archäologischer Präzision legt Kenah Cusanit die Persönlichkeit, die Arbeitsweise und den subtilen Humor des Wissenschaftlers frei. Wie nebenbei erfahren wir Details über die schwierigen Arbeitsbedingungen vor Ort und das Konkurrenzdenken Deutschlands am Vorabend des Ersten Weltkrieges:
Ja, natürlich, sagte der Kaiser. Und nun stelle er sich das mal vor: Berlin als Bewahrerin babylonischer Kultur, der Wiege der Zivilisation, er in einer Reihe mit Nebukadnezar! (S. 241)
Die deutsche und türkische Bürokratie erschweren die Ausgrabungen.
Püttmann, Bagdad
Vielleicht sollte ich lieber profitable Romane schreiben wie Carl May. . . . (S.49)
Auch bisherige wissenschaftliche und religiöse Lehr-Meinungen kommen ins Wanken:
. . . sie wüssten es ja nicht eindeutig, aber sehr wahrscheinlich seien ganz oben auf dem Turm astronomische Beobachtungen durchgeführt worden. Er habe also als Observatorium gedient, sagt Koldewey . (S.140)
Mehrmals sorgt die Erwähnung einer für jene Epoche besonders ungewöhnlichen Frau für Aufmerksamkeit: Mrs (Gertrude) Bell.
Irgendwo am anderen Ende der Prozessionsstraße war Bell sicherlich gerade dabei, die freigelgten Fundamente es Turms zu photographieren, und die Reste des Treppenaufgangs. Möglich, dass sie den Turm nie entdeckt hätten, wenn die Türken am Ende des 19. Jahrhunderts nicht auf die Idee gekommen wären, oberhalb des Euphrats das Wasser zu stauen. . . (S. 244)
So spannt sich der Bogen der Rezeption der Geschichte Babylons von den Geschichten der Bibel, den Gemälden Bruegels, den Intentionen der Deutschen Orient-Gesellschaft, dem Ischartor (Pergamonmuseum, Berlin) bis zu diesem lesenswerten Roman und seinen Bezügen zu heutigen Kriegsschauplätzen.
Der Titel der TV-Serie Babylon Berlin knüpft an diese Topoi an.
Gespräch:
Von der Buchmesse: https://www.youtube.com/watch?
v=w6BCsgZlgYs ab min. 15
https://www.falter.at/falter/rezensionen/
buch/767/9783446261655/babel
https://www.spiegel.de/kultur/literatur/kenah-cusanit-ihr-roman-babel-ueber-robert-koldewey-rezensiert-a-1250392.html
https://de.wikipedia.org/wiki/
Turmbau_zu_Babel
https://de.wikipedia.org/wiki/James_Simon
https://de.wikipedia.org/wiki/Gertrude_Bell +
Film: Queen of the Desert. Werner Herzog (2015)
Stefan Zweig. Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters (1932)
Anonymes Gemälde 1793
Einleitung
Die Geschichte der Königin Marie Antoinette schreiben, heißt einen mehr als hundertjährigen Prozeß aufnehmen, in dem Ankläger und Verteidiger auf das heftigste gegeneinander sprechen. . . .
Nun wohnen Wahrhaftigkeit und Politik selten unter einem Dach, und wo zu demagogischem Zweck eine Gestalt gezeichnet werden soll, ist von den gefälligen Handlangern der öffentlichen Meinung wenig Gerechtigkeit zu erwarten. Kein Mittel, keine Verleumdung gegen Marie Antoinette wurde gespart, um sie auf die Guillotine zu bringen, . . .
Um so entschiedener erfolgte dann der Umschwung, als 1815 abermals ein Bourbone den französischen Thron bestieg; um der Dynastie zu schmeicheln, wird das dämonisierte Bild mit den öligsten Farben übermalt:
Die seelische Wahrheit liegt hier wie meist in der Nähe der Mitte. Marie Antoinette war weder die große Heilige des Royalismus noch die Dirne, die »grue« der Revolution, sondern ein mittlerer Charakter, . . .
http://gutenberg.spiegel.de/buch/marie-antoinette-6856/2
Bereits die Einleitung enthält die wichtigsten Themen, über die es aus mehreren Gründen auch im jungen, „neuen“ Jahrtausend zu reflektieren lohnt: Einzelpersonen als Symbolfiguren ihrer Zeit, soziale und politische Strömungen, die „öffentliche Meinung“ und ihre Beeinflussung.
Sehr erhellend ist die Beschäftigung mit der Entstehungszeit dieses biografischen Romans: Er wurde ein großer Erfolg, allein 1932 erschienen im Leipziger Insel Verlag drei Auflagen. (In welchen Kapiteln mögen die Leser/innen Parallelen zu ihrer Zeit entdeckt haben?) Bald wurde eine Überarbeitung der Werke dieses „jüdischen Erfolgsautors“ mit Französischkenntnissen in Auftrag gegeben. Die folgenden Biografien Maria Stuarts und Magellans erschienen bei einem Wiener Verlag. (1935, 1938) Zweig war nach einer Hausdurchsuchung wenige Tage nach den Februarkämpfen 1934 geschockt nach London emigriert.
https://www.falter.at/falter/rezensionen/
buch/471/9783458359043/marie-antoinette
Faszinierend sind die feinfühlige, psychologische Beschreibung der Hauptfigur und die bereits in der Einleitung anklingende sprachliche Gestaltung. So entsteht auf der Basis damals bekannter historischer Fakten ein sinnlich erfahrbares Porträt des späten 18. Jahrhunderts, das uns auch zum Nachdenken über unsere Gegenwart anregt.
P.S. Marie-Antoinette (geb 2. November 1755 in Wien, Hofburg; † 16. Oktober 1793 in Paris, Guillotine am Place de la Révolution, heute: Place de la Concorde) wurde als Erzherzogin Maria Antonia von Österreich geboren. Durch Heirat mit dem Thronfolger Louis Auguste (Bourbone) wurde sie 1770 Dauphine von Frankreich…… Wikipedia.org
Überblick:
https://www.youtube.com/watch?
v=l71_oDfE4lE
Film "La Révolution française (1989) Part 2": Ececution 3:31 min https://www.youtube.com/watch?
v=BSoVRXOit-M
Tipps:
Marie Antoinette ist ein US-amerikanischer Film von Sofia Coppola aus dem Jahr 2006. Er bebildert das Leben der österreichischen Erzherzogin und
französischen Königin Marie Antoinette und basiert auf der Biografie von Antonia Fraser. Die Uraufführung fand am 24. Mai 2006 im Rahmen des Wettbewerbs bei den Filmfestspielen in Cannes statt.
Kirsten Dunst
https://www.youtube.com/watch?
v=yBWyKRoh98U
Lebwohl, meine Königin (Les adieux à la reine) ist ein französischer Historienfilm aus dem Jahr 2012, Regie führte Benoît Jacquot. Der Film erzählt die Geschichte der Französischen Revolution vom 14. bis zum 17. Juli 1789 aus der Sicht der königlichen Vorleserin Sidonie Laborde, die der Königin Marie Antoinette nahestand. Diane Kruger
https://www.youtube.com/watch?
v=hBTpaF7h0HA
Flucht nach Varennes: Der Film basiert auf dem 1982 erschienenen Roman La Nuit de Varennes ou l'Impossible n'est pas français von Catherine Rihoit und behandelt ein geschichtliches Ereignis aus dem Jahr 1791, nämlich den Fluchtversuch des französischen Königs Ludwig XVI., seiner Gemahlin, der Königin Marie-Antoinette, und ihrer beiden Kinder nach Varennes (Lothringen) und deren Festnahme.
https://www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/flucht-nach-varennes
Élisabeth Vigée-Lebrun. 1787
Marie Therese (1778-1851), Louis Joseph 1781-1789, Louis Charles 1785-95
leere Wiege: Tochter Sophie war mit 11 Monaten im Juni 1787 gestorben
Miguel Torga, geb. als Adolfo Correira Rocha (* 1907 in São Martinho de Anta,
Trás-os-Montes, Portugal; † 1995 in Coimbra, Portugal)
Anlässlich des 100. Geburtstags des Autors machten es
die breit gestreuten, vielfältigen Veranstaltungen deutlich: Er war einer der bedeutendsten portugiesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Die Wahl seines Pseudonyms charakterisiert ihn und sein Werk: „Torga ist eine Pflanze aus Trás-os-Montes, ein Heidekraut von der Farbe des Weins mit sehr festen, harten Wurzeln, die zwischen den Felsen sitzen. So wie ich hart bin und meine Wurzeln in harten, spröden Felsen habe.“ Metzler Lexikon Weltliteratur, Band 3
Für den Vornamen Miguel gibt es zwei berühmte Paten: Cervantes und Unamuno.
Torgas Biografie veranschaulicht auf dramatische Weise die politischen und sozialen Verwerfungen seiner Zeit.
https://www.nzz.ch/ein_fleck_erde_
umspuelt_von_meer-1.539283
Vindima (1945) Weinlese (1965/1997) Übersetzung Erika Farny
Das Douro-Tal ist vielen Menschen von einer der idyllischen Kreuzfahrten oder wegen des köstlichen Portweins bekannt. Sie wären vielleicht bereits bei den ersten Zeilen des Romans mit dem verheißungsvollen Titel Weinlese irritiert:
Insgesamt waren es vierzig Männer, Frauen und Kinder. Seara, der Verwalter des Cavadinha-Gutes, war von Haus zu Haus gegangen, als hätte er eine frohe Botschaft zu verkünden und nicht, als wäre er gekommen, Lasttiere anzuwerben . . .
Dass jährlich zur Weinlese Bewohner eines Bergdorfes im Norden zu einem der Weingüter hinabsteigen, bildet einen Handlungsstrang. Eine der beiden Besitzerfamilien stammt aus der Feudalzeit, sie scheinen die harte Arbeit der Tagelöhner immerhin zu respektieren. Die Nachbarfamilie gehört zu den Aufsteigern, jede ihrer Handlungen und Äußerungen beweist, dass Boden und Reichtum bei ihnen nicht in guten Händen sind. Besonders interessant ist die Rolle des aus der Stadt angereisten Arztes, eines Berufsstandes, dem der Autor selbst angehört.
Die Naturbeschreibungen mögen viel von Reisen Vertrautes schildern. Auf meisterhafte Weise vermittelt der Autor vor dieser Kulisse, wie sich am Schicksal unterschiedlichster Menschen die dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts ankündigen.
Darüber hinaus erschrecken die vielen Parallelen zwischen diesem „portugiesischem Welttheater auf kleiner Bühne“ (Gauß, siehe unten) und den Entwicklungen der Gegenwart.
Karl-Markus Gauß
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/
buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristik-vierzehn-tage-ohne-den-duft-der-trauer-11306124.html
Zum Wiederlesen:
Bertolt Brecht (1898-1956) Flüchtlingsgespräche (Entstehung ab den frühen 40er Jahren, Erstveröffentlichung 1956, erweiterte Ausgabe 2000)
Im Restaurant, eigentlich einem Wartesaal, des Hauptbahnhofes von Helsingfors und an anderen Treffpunkten sprechen zwei politische Flüchtlinge „Der Große“, später stellt er sich als Ziffel, Physiker, vor und „Der Untersetzte“, Kalle, ein Metallarbeiter, über verschiedene Themen: Sich vorsichtig umblickend, stellen sie Reflexionen über ihre Situation, das Vordringen der deutschen Truppen und allgemeine Betrachtungen an.
Brecht verließ Deutschland am Tag nach dem Reichstagsbrand (28.2.1933). Prag, Wien, Zürich, Paris, Dänemark waren seine ersten Zufluchtsorte. 1935 wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. In dieser Zeit entstand der Großteil seiner bekanntesten Werke. Über Finnland kam er 1941 in die USA. Erst ab 1949 konnte er am Ostberliner Theater am Schiffbauerdamm mit einem eigenen Ensemble arbeiten.
Das folgende Zitat macht verständlich, weshalb die „Flüchtlingsgespräche“ wieder vermehrt auf Bühnen präsentiert werden.
https://buehnen-halle.de/fluechtlingsgespraeche#!/
DER UNTERSETZTE
Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.
DER GROSSE
Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes. Der Paß wird ihm in die Brusttasche gesteckt wie die Aktienpakete in das Safe gesteckt werden, das an und für sich keinen Wert hat, aber Wertgegenstände enthält. . . .
Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 14, S. 1383
Die auf den ersten Blick einfache Sprache umkreist die zentralen Bereiche menschlicher Existenz. Zweideutigkeit, Distanziertheit und Ironie des Textes verstärken dessen Gültigkeit bis zur Gegenwart.
Ergänzung:
Film: Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm. Regie: Joachim A. Lang (2018)
Bertolt Brecht (Lars Eidinger) Helene Weigel (Meike Droste) . . . Mackie Messer (Tobias Moretti) Polly/Carola Neher (Hanna Herzsprung) Peachum (Joachim Król) Moritatensänger (Max Raabe)
Trailer https://www.youtube.com/watch?
v=zaqTlV4Mem4
Gespräch mit Regisseur und Lars Eidinger https://www.youtube.com/watch?
v=OLQb3wNuN30
Film: Abschied. Brechts letzter Sommer
Regie: Jan Schütte (2000)
Bertolt Brecht (Josef Bierbichler)
Helene Weigel (Monica Bleibtreu) . . .
Elisabeth Hauptmann (Elfriede Irrall)
Barbara Brecht (Birgit Minichmayr)
https://www.skip.at/film/1519/
Stefanie Sargnagel. Statusmeldungen (2017)
Dass es sowas noch gibt, ich glaub's nicht! Ein wirklich neuer Ton in der Literatur: hier ist er.
(Elfriede Jelinek)
Videoporträt zum Bachmannpreis 2016:
http://bachmannpreis.orf.at/stories/2773162/
Das Wienerische der „Flächenbezirke“ war schon unzählige Male der Nährboden für künstlerische Ausdruckformen. Seit einigen Jahren nützt eine neue Generation die vielfältigen Möglichkeiten der „auf der Straße“ gesprochen Sprache. Stefanie Sargnagel ist von Kind auf mit ihr vertraut und nennt Christine Nöstlinger als ihr frühes Vorbild. Begegnungen mit dem „bürgerlichen“ Milieu im Gymnasium und später an der Akademie der Bildenden Künste bestärkten sie schließlich darin, nicht nur sprachlich sondern auch in ihrem Lebensentwurf einen eigenen Weg zu gehen. Die Arbeit in einem Call Center regte sie dazu an, die reduzierten Sprechformen und teils skurrilen Anfragen, teilweise ergänzt durch Zeichnungen, über die soziale Medien zu verbreiten. Das Echo war enorm.
Mit roter Baskenmütze, Bierflasche und Zigarette stilisiert sie ihr Image. Interviewfragen beantwortet sie mit doppelbödiger Nonchalance.
https://cms.falter.at/falter/rezensionen/
buecher/?issue_id=603&item_id
=9783950335989,
2013 fällt der Entschluss, Internet-Texte als Buch zu veröffentlichen. (Binge Living: Callcenter-Monologe)
Bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2016 gewinnt sie mit dem Text „Penne vom KIKA“ den Publikumspreis (Facebook-Follower!) und ist somit 2017 ein halbes Jahr Stadtschreiberin von Klagenfurt. (Der Juror Hubert Winkels: „Der Text tut so, als ob er einfach und authentisch ist, es ist aber komplexe Literatur.“ (siehe Diskussion IBP)
Seit der Gründung der Akademischen Burschenschaft Hysteria zu Wien, eines satirischen, feministischen Projekts, nehmen die „shitstorms“ gegen die Künstlerin zu. Offener Brief: «Eure Wut beflügelt mich, eure Angst nährt mein gerechtes Herz. Der Versuch, mich leise zu kriegen, lässt mich in die Exosphäre schießen. Ich bin euer schlimmster Albtraum, und das spürt ihr …»
Ihr viertes Buch „Statusmeldungen“ ist 2017 bei Rowohlt erschienen und setzt die bewährte Mischung aus Internet-Texten und ihren unverwechselbaren Zeichnungen fort.
Der Tagesspiegel: «Ob ihre Texte nun Literatur, Satire oder Journalismus sind, ist letztlich unerheblich. Sie sind alles zusammen; aber vor allem sind sie genuine Internet-Texte, die zeigen, dass die sozialen Medien ihre eigenen Formen und Stars hervorbringen.»
Und so schließt sich der Kreis: Bei ihren Lesungen fügt sie ihren Texten alle Schattierungen des Wienerischen hinzu. Der Tourneeplan und die Veranstaltungsorte im gesamten deutschsprachigen Raum beweisen, dass die vielseitige Künstlerin (Auftritte mit Vodoo Jürgens) mit ihrem humorvoll gebrochenen Blick auf Kleinst-Themen die Stimmung nicht nur ihrer Generation trifft.
https://www.youtube.com/
watch?v=nvor9ohptBI
Irene Dische. Großmama packt aus (2005) Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser.
Hörbuch: gelesen von Hannelore Hoger
„Großmama“ (nicht Oma), eine aus dem Rheinland stammende überzeugte Katholikin, erzählt aus dem Jenseits von ihrem ereignisreichen Leben. Gleich der erste Satz legt den Tonfall und einige inhaltliche Partikel fest:
Dass meine Enkeltochter so schwierig ist, hängt vor allem mit Carls geringer Spermiendichte zusammen. Er hat seine kleinen Männer durch Heldenhaftigkeit ermordet. Darüber später mehr. Jedenfalls brachte er nur ein Kind zustande. Und dieses eine hatte das falsche Geschlecht . .
Der erzählerische Kunstgriff erlaubt es der Autorin, die Familiengeschichte – vor allem die der 3 Frauengenerationen – aus herrlich spöttischer, oft völlig „unkorrekter“ Sichtweise zu präsentieren. Elisabeth, genannt Mops, lernt 1917 in einem Lazarett in Schlesien zunächst die geschickten Hände und großen Augen des Arztes und Universitätsprofessors Carl Rother kennen. Ohne Operationsmaske ist sofort klar: Er ist Jude. Er tritt zwar aus Überzeugung noch vor der Hochzeit zum Katholizismus über, aber die seit Shakespeares Shylock (1600, aktuell: Joachim Meyerhoff am Hamburger Schauspielhaus
http://www.kn-online.de/Nachrichten/Kultur/Schauspielhaus-Hamburg-Joachim-Meyerhoff-im-Kaufmann-von-Venedig)
über Max Frischs divers rezipiertes Stück „Andorra“ (1961) bis zur Gegenwart diskutierte Frage lautet: Kann es eine Identität von Menschen geben in Zeiten von Vorurteilen, Feindbildern und Lebensläufen voller Brüche?
Was ist vom Vorschlag eines Journalisten zu halten, Irene Dische sollte den Heine-Preis erhalten, weil sie Jüdin sei? (Gisèle Freund 1990: "Das hat seit den Nazis niemand mehr gewagt, mich als Jüdin zu bezeichnen!" https://www.emma.de/artikel/irene-dische-dische-packt-aus-264051)
Schließlich kommt die Familie in New York wieder zusammen. Renate, das oben genannte Kind mit dem falschen Geschlecht, wird ebenfalls Ärztin und heiratet (in erster Ehe) den um 25 Jahre älteren Wissenschaftler Zacharias Dische (geb. Galizien/Österreich-Ungarn, heute Ukraine). Ihre Kinder Irene und Carl(chen) gehören der dritten Generation an, ihr Aufwachsen wird mit viel sarkastischem Humor geschildert. Mit besonderer Freude scheint die Autorin den Part gestaltet zu haben, der viele Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen Leben hat: geb. 1952 in New York, als 17-Jährige trampt sie bis in den Iran, 1970-72 Arbeit in Kenia in einem Institut für Affenforschung. Rückkehr in die USA.
Ausblick:
Biografie:
http://www.buecherwiki.at/index.php/
BuecherWiki/DischeIrene
Schwarz und Weiß (2017) Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Plessen geb. 1944, Mitteilung an den Adel. 1976. Lebensgefährte: Peter Zadek, gest. 2009)
http://www.zeit.de/2017/45/irene-dische-schwarz-und-weiss-roman
Sasha Marianna Salzmann.
Außer sich (2017)
Am Berliner Maxim Gorki Theater wird in einem „Kunstasyl“ Neues erprobt:
Я [sprich: ya] ist der letzte Buchstabe im kyrillischen Alphabet und bedeutet auf russisch ICH. Deshalb gibt unser Name eine Denklinie vor: Hier geht es um Selbstbestimmung! STUDIO Я ist eine Plattform, auf der das Selbst hinterfragt und weitergedacht wird.
www.gorki.de
Die 1985 in Wolgograd geborene Marianna Salzmann (Sasha nach ihrem Urgroßvater) und Daniel Kahn (geb. 1978 in Detroit, bei uns besonders bekannt als Musiker D.K. & The Painted Bird) gehören zum „Kern des Kollektivs“.
Als sie 2012 ein Stipendium für die Akademie Tarabaya in Istanbul erhält, verfasst sie in dieser vielfältigen Stadt nach eigenen Angaben „wie im Rausch“ ihre erste Prosaarbeit (bisher Theaterautorin).
Grob betrachtet handelt es sich um eine Familiengeschichte über vier Generationen an unterschiedlichen Schauplätzen (Moskau, Czernowitz, Berlin, Odessa etc). Russisch-jüdische Erinnerungen, Migration und der Gebrauch verschiedener Sprachen gehören zu den autobiografischen Anknüpfungspunkten.
Die rastlose Suche Alissas nach ihrem Zwillingsbruder Anton in Istanbul bestimmt die Erzählweise und Bildsprache des Romans.
„Außer sich“ sind die handelnden Figuren auch in der Frage nach ihrer Gender-Identität, mithilfe von Testosteron verwandelt sich Ali/Alissa schrittweise in ein Er.
Dieser faszinierende Text trifft in vielerlei Hinsicht den „Puls der Zeit“, er wird in 13 Sprachen übersetzt.
Allgemein: BR Fernsehen/ puzzle
www.youtube.com/watch?v=E8W_Y5jvFXM
sashamariannasalzmann.com/ausser-sich/
http://www.suhrkamp.de/sasha-marianna-salzmann/ausser-sich_1462.html
Buchtrailer
www.youtube.com/watch? v=0wrOBu2N6ZA
über 'Muttersprache Mameloschn' www.youtube.com/watch?v=GgtLypt9Lns
über Migration:
www.youtube.com/watch?v=-GsOaTAVAGI
Ingo Schulze. Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. (2017)
Was liegt näher als sich in verwirrenden Zeiten einer Erzählform zu bedienen, die in der Zeit des Barock Eingang in die deutschsprachige Literatur gefunden hat?
Wie viele Beispiele gäbe es aufzuzählen, in denen ein „Simplicius“ mit seiner schrägen Ich-Perspektive Erhellendes über die jeweilige Epoche aussagte?
Ingo Schulze nimmt unsere Ratlosigkeit über die Vorgänge an den Finanzmärkten zum Anlass, ein Kind auf seinem Weg aus dem „real existierenden Sozialismus“ in die Glücksversprechungen der Nach-Wende-Zeit zu begleiten. In immer skurrileren Episoden (in politischen, kirchlichen, künstlerischen Milieus) erweist sich Peter Holtz als wahrer „Hans im Glück“. Schließlich stimmt man Peters drastischer Methode, diesen Kreislauf der Geldvermehrung zu unterbrechen, überzeugt zu.
Buch I
Erstes Kapitel
In dem Peter ohne einen Pfennig in der Tasche eine Gaststätte aufsucht und erklärt, warum er das für richtig hält. Überlegungen zum Stellenwert des Geldes im Sozialismus.
An diesem Sonnabend im Juli 1974, acht Tage vor meinem zwölften Geburtstag, weiß ich noch nichts von meinem Glück . . .
Ein geistreicher und humorvoller Roman voller Hinweise auf reale Vorkommnisse.
Porträt + Leseprobe:
http://www.ardmediathek.de/radio/ARD-Radiofestival-2017-Lesung/Ingo-Schulze-liest-Peter-Holtz-für-das/ARD-Radiofestival/Audio?bcastId=43536754&
documentId=44470278
Ergänzung: Olaf Schubert erklärt den Kapitalismus
https://www.youtube.com/watch?v=-gYoU7-rouU
Kurt Palm »Strandbadrevolution« (2017)
Der 1955 in Vöcklabruck geborene, promovierte Germanist (1983 Vom Boykott zur Anerkennung. Brecht und Österreich) und vielseitig kreative Erneuerer diverser literarischer, musikalischer und filmischer Sparten überrascht in diesem Jahr das Lesepublikum mit einem Roman.
Die Handlung spielt im Sommer 1972 in einem Ort in der Provinz und weist einige Berührungspunkte mit der Biografie des Autors auf – z.B. die 1944 aus Jugoslawien geflohenen Großeltern und Eltern. Das Familienleben, Freunde, ein Inder, der im Kraftwerk ein Praktikum absolviert, Kleidung, die Haartracht, Songtexte (immer wieder Rolling Stones), Zeitungsberichte über den Vietnamkrieg (oft aus der „Volksstimme“), die aus einer Buchhandlung entwendeten, prestigebringenden Bücher von Camus, Sartre, Adorno etc, Filme, Konzerte lokaler Bands und der Plan zu einer „Aktion“ vermitteln die Atmosphäre der Welt, in der sich die Jugendlichen bewegen.
Die im Herbst drohende Nachprüfung in Französisch wird angesichts der vielen im Strandbad weilenden, attraktiven Mädchen schnell vergessen.
Wenn es am schönsten ist, muss einer mit noch längeren Haaren antanzen und einem das Mädchen ausspannen: „Der kommt sicher von auswärts, dachte ich geschockt, vielleicht sogar aus Wels.“ (S. 96)
Früh tauchen im Text kursiv gesetzte Schreibversuche des Ich-Erzählers auf. Sie werden ausführlicher, handeln von 1979 und 1984 und enden schließlich immer mit den Worten: Aber das konnte ich im Sommer 1972 natürlich nicht wissen.
Die Ausblicke verleihen den Ereignissen dieses Sommers eine erweiterte, auch tragische Perspektive. Die teilweise ironisch gefärbte Erzählweise (Campingurlaub in Jugoslawien) macht klar: Es gibt keinerlei Anlass, diese Zeit zu romantisieren.
http://www.palmfiction.net/blog/about/
Rückblick – eine kleine Auswahl
1989 – 99 Produktionen des Sparvereins die Unz-Ertrennlichen
1994-96 TV-Produktion: "Phettbergs nette Leit Show"
Film-Dokumentationen aus ungewohntem Blickwinkel, im neuen Tonfall:
Adalbert Stifter (2003) Der Schnitt durch die Kehle.
http://www.fischerfilm.com/produktionen/der-schnitt-durch-die-kehle/
W.A. Mozart (2004) Der Wadenmesser oder das wilde Leben des Wolfgang Mozart.
Interview: http://www.austrianfilms.com/news/
bodykurt_palm_im_gespraech_ueber_der_
wadenmesser_oder_das_wilde_leben_des_
wolfgang_mozart_body
Beide Filme um €9,99:
http://shop.orf.at/1/shop.tmpl?art=3674&lang=DE
Immer wieder: Gmundner Festwochen:
derstandard.at/2000042542262/Kurt-Palm-Von-
Skandalen-und-Liebesgedichten
Sein Bestseller "Bad Fucking" (2010) wurde 2011 mit dem Friedrich Glauser-Preis für den besten deutschsprachigen Krimi des Jahres ausgezeichnet.
https://www.hanser-literaturverlage.de/autor/kurt-palm
Angelika Mechtel. Die Prinzipalin (1994)
Welche Fragen an das Leben einer Theaterprinzipalin des 18. Jahrhunderts mögen eine 1943 in Dresden geborene Autorin wohl zu den umfangreichen Recherchen und der kunstvollen Gestaltung des „Materials“ bewogen haben?
Zunächst war es sicher die Faszination von einer Frau, die 1697 als Friderike Caroline Weißenborn im Vogtland geboren, zunächst gemeinsam mit ihrer früh verstorbenen Mutter ungeheuer unter dem despotischen Vater, einem Advokaten, litt, 1717 mit Johann Neuber floh, den sie im Jahr darauf heiratete. Sie schlossen sich einer Theatertruppe an und gründeten wenige Jahre später in der Messestadt Leipzig die Neubersche Komödiantengesellschaft. Welche Verdienste die „Neuberin“ für die Entwicklung des deutschsprachigen Theaters hat, kann in jeder Biografie nachgelesen werden. Der in ein Vorspiel, 4 Teile mit Zwischenspielen und Nachspiel gegliederte Roman schildert auf verschiedenen Zeitebenen Stationen der gebildeten, starken und humorvollen Prinzipalin. Sie muss sich nicht nur gegen ihre männlichen Konkurrenten durchsetzen, sondern auch die Spielregeln der Feudalgesellschaft zu Gunsten ihrer Theatertruppe einsetzen. Die in vielen Genres versierte Autorin schafft einfühlsame Porträts von Menschen aller gesellschaftlicher Schichten und lebendige Szenen des Alltagslebens dieser Jahrzehnte: der Reisen, der Pflege der Theaterperücken bis zu den seltenen Einladungen an einen Fürstenhof.
Mit dieser Arbeit kehrte Mechtel „nach der Wende“ wohl auch an Schauplätze ihrer Kindheit zurück – die Neuberin starb 1760 verarmt in Laubegast/Dresden, ihr Grab befindet sich am Leubener Friedhof.
Die Autorin starb 6 Jahre nach Erscheinen des Romans mit 56 Jahren und ließ ihre Asche in einer Bucht von Puerto Rico verstreuen, wo sie viele Jahre mit dem Schriftsteller Gerd E. Hofmann gelebt hatte. Ihm hatte sie den Roman gewidmet.
“Das Rätsel des Lebens habe ich noch nicht gelöst. Gibt es eines zu lösen? Gilt es nicht, ganz einfach nur zu leben?”
Mechtel. Krebstagebuch 1990
"Was ist das menschliche Leben anderes als eine Komödie oder ein Schauspiel, wo einer in dieser, der andere in jener Larve auftritt und seine Person agiert, bis ihn sein Prinzipal wieder abtreten heißt?"
Erasmus von Rotterdam
http://www.mechtel.de/home.htm
http://www.fembio.org/biographie.php/frau/
biographie/angelika-mechtel/
http://www.zeno.org/Literatur/M/Neuber,
+Friederike+Caroline/Biographie
http://www.dresden-lese.de/index.php?article_id=238
Günther Weisenborn. Die Neuberin (Schauspiel 1934, zusammen mit Eberhard Keindorff)
Hörspiel Günther Weisenborn 1951:
http://oe1.orf.at/hoerspiel/suche/2724
Käthe Dorsch als Neuberin
Film: https://de.wikipedia.org/wiki/
Komödianten_(1941)
Käthe Dorsch als Neuberin
2010 zum 250. Todestag:
http://www.deutschlandfunkkultur.de/
reformerin-des-theaters.
932.de.html?dram:article_id=131005
David Großmann
Kommt ein Pferd in die Bar.
Übersetzung: Anne Birkenhauer(2016)
Ein Romantitel in Anlehnung an einen Kneipenwitz? Tatsächlich baut der bekannte Autor (er verlor im Libanonkrieg einen seiner Söhne) den Roman raffiniert und pointiert auf wie einen gut erzählten Witz: Der Stand-up-Comedian Dovele Grinstein bemüht sich an seinem 57. Geburtstag die Erwartungen seines Publikums im Kellerlokal der israelischen Stadt Netanja zu erfüllen. Immer wieder flicht er unterschiedlichste Witze in sein Programm ein. Wegen seiner artistisch und skurril vorgetragenen tragischen Erinnerungen verlassen im Laufe des Abends Menschen in größeren und kleineren Gruppen die Vorstellung. Erinnerungen und Ängste plagen den Großteil von ihnen ohnehin, sie wollen abgelenkt und unterhalten werden. Einige von ihnen kennen den Künstler seit ihrer Kindheit, einige scheinen mit ihm verwandt zu sein.
Erzählt wird aus der Perspektive seines Jugendfreundes, Avishai Lazar, eines pensionierten Juristen. Seit der dramatischen Situation, als sie beide 14 Jahre alt waren, verdrängt er, dass er Dovele damals nicht zur Seite stand. Vor kurzem erhielt er einen Telefonanruf mit der Bitte, in diese Vorstellung zu kommen.In selbstzerstörerischem Tempo führt der Künstler u.a. vor, wie er seit frühester Kindheit seine durch die Shoah schwer traumatisierte Mutter mit kleinen komödiantischen Vorführungen manchmal zum Lächeln brachte. Das auf den Händen Laufen entwickelte er zu einer solchen Perfektion, dass diese Körperhaltung auch ihm Schutz vor Kränkungen bot.
Diese Form der Fortbewegung setzt er auch an jenem Tag ein, als er nach einer wilden Parforce-Fahrt mit einem Militärfahrzeug vom Jugendcamp bei der Beerdigung in Jerusalem ankommt. . . .
Ein faszinierendes und berührendes Buch; der „Zauberer“ entblößt sein Ich, das imaginierte Publikum und zieht uns Lesende in seinen Bann.
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/
buecher/in-der-eigenen-hoelle/story/19836217
https://cms.falter.at/falter/rezensionen/
buecher/?issue_id=622&item_id=
9783446250505
http://derstandard.at/2000031832494/David-Grossmans-Kommt-ein-Pferd-in-die-Bar-Alles-andere
http://oe1.orf.at/artikel/436162
Mathias Énard. »Kompass« (2016)
»Boussole« (2015)
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Schloss Hainfeld bda.at
Die Rezeption dieses Romans bestätigt dessen Quintessenz: Es fand und findet ein steter Austausch zwischen Europa und dem sogenannten Orient statt:
Im Februar 2016 war in einer Glosse der österreichischen lachsfarbenen Tageszeitung zu lesen, dass in einem 2015 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten französischen Roman die Hauptfigur in einem Wiener Kaffeehaus ebendiese Zeitung lese. Sein Teint korrespondiere mit deren Farbe. Thema und Tonfall machten neugierig.
Ab August lag die Übersetzung ins Deutsche vor und die Lektüre übertraf alle Erwartungen.
Das Zitat aus „Die Winterreise“ als „Intro“ lässt das Grundmotiv erahnen:
Die Augen schließ’ ich wieder,
Noch schlägt das Herz so warm.
Wann grünt ihr Blätter am Fenster?
Wann halt’ ich mein Liebchen im Arm?
Gemeinsam mit dem Wiener Musikwissenschaftler und Orientalisten Franz Ritter lassen wir uns Stunde um Stunde durch eine schlaflose Nacht treiben. Per Post (!) hat er aus Borneo den Vorabdruck eines wissenschaftlichen Artikels erhalten. Er stammt von Sarah, der schönen französischen Orientalistin, die er vor ungefähr 20 Jahren bei einem Kolloquium internationaler Fachleute im steirischen Schloss Hainfeld kennen gelernt hat. (Dort wohnte ab 1835 der bedeutende Forscher und Übersetzer Joseph von Hammer-Purgstall– er beeinflusste u.a.Goethe und Rückert; dessen „Kindertotenlieder“ wurden auch von Gustav Mahler vertont und ziehen sich als weiterer roter Faden durch den Roman.)
Auf atmosphärische Erinnerungen an weitere, nicht immer beglückende Begegnungen mit Sarah in Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra, Paris und Wien folgen kenntnisreiche Exkurse über die mannigfachen gegenseitigen Einflüsse zwischen Orient und Okzident in Kunst und Kultur. (Der gelehrte Gedankenaustausch nennt zahllose Beispiele aus Musik, Literatur und Malerei. Bei ihrem letzten Wienbesuch entzündete sich die Debatte an Hofmannsthals These von Wien als „Porta Orientalis“.)
Die Sehnsucht und Sinnsuche der Europäer im Orient wird anhand einiger Anekdoten durchaus ironisch beschrieben. Sarah ist neben ihrer Begeisterung für die altpersische Literatur fasziniert von der Schweizer Weltreisenden Annemarie Schwarzenbach, die im frühen 20. Jahrhundert ebenso auf der Suche war wie sie selbst. (Ihrem langjährigen Vertrauten Franz Ritter hat sie vor Jahren in neckischer Anspielung einen Kompass geschenkt, auf dessen magnetische Nadel im rechten Winkel eine zweite befestigt ist: Sie zeigt nach Osten!)
Geradezu exstatische Freude bereitet ihr Franz, als er ihr den Link zu einem bosnischen Liebeslied in der Tradition der Sevdalinka zusendet. Dessen Text führt zu Heinrich Heines Gedicht „Der Asra“ zurück.
Allein dieses Beispiels wegen lohnt die Lektüre dieses vielschichtigen Romans.
Als die ersten Vögel zu hören sind und Franz aufsteht, trifft ein Mail ein . . .
Interview: http://derstandard.at/2000043756286/
Mathias-Enard-Immer-gibt-es-einen-Orient
TV-Interview: https://www.zdf.de/kultur/aspekte/mathias-enards-orient-roman-kompass-102.html
Leseprobe: https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/kompass/978-3-446-25315-5/
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Asra
Michael Kumpfmüller. Die Herrlichkeit des Lebens. Roman (2011)
Der Autor (geb. 1961), changierend zwischen journalistischer und wissenschaftlicher Arbeit, findet einen feinfühligen Zugang zu den letzten Lebensmonaten Franz Kafkas.
Dessen Tagebücher (Der Titel entstammt einer Eintragung des Jahres 1921.), Briefe und letzten Texte gehen eine inhaltliche und stilistische Symbiose mit der faszinierenden literarischen Annäherung ein. „Der Doktor“, schließlich „Franz“ begegnet Dora Diamant in einem Ostseebad, lebt dann in der Zeit der galoppierenden Inflation mit ihr kurz in Berlin. Er beugt sich dem Verbot ihres Vaters zu einer Heirat und stirbt schließlich in Kierling in der Nähe von Wien: Aber er ist wach, er lächelt, er nickt, bevor er vor Erschöpfung die Augen schließt. Gegen Mittag in ihren Armen stirbt er. (S. 297)
Zugfahrten, Telefonate, Geldüberweisungen, Wohnungssuche sind ebenso Themen dieses leisen Romans wie die heitere Zuwendung der beiden Liebenden. Wir werden belohnt mit einem neuen Blick auf Kafkas Persönlichkeit und dem Anstoß, uns mit Dora Diamant und den in dieser Zeit entstandenen Texten zu beschäftigen.
Lesprobe:
Text:
http://www.fischerverlage.de/media/fs/308/LP_978-3-596-52039-8.pdf
http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/kafkas-komplizin-1.18280848
Dora Diamant: http://www.dieterwunderlich.de/Dora-Diamant.htm
Marie von Ebner-Eschenbach
(1830-1916) zum 100. Todestag
Literaturinteressierte wissen, dass die berühmte österreichische Vertreterin des Poetischen Realismus ihre Lebensdaten mit Kaiser Franz Joseph gemeinsam hat.
Sind ihre Werke für Generationen durch die verpflichtende Schullektüre für immer verloren?
Aktuelle Forschungen analysieren die Texte unter anderen – neuen Aspekten.
Neben den regionalen Bezügen zu ihrer Heimat Mähren wählt die aus einer adeligen Familie stammende Autorin, die viele Sprachen beherrschte, ihre Haupt-Figuren immer wieder aus sogenannten »unteren sozialen« Schichten. Deren Lebensbedingungen beschreibt sie mit viel Einfühlungsvermögen.
Gesellschaftliche Missstände und Umbrüche werden Teil der Handlung, die oft märchenhaft positiv endet. Ihrem 1887 erschienenen Roman »Das Gemeindekind« stellt sie ein Zitat von George Sand (eigentlich Amantine Aurore Lucile Dupin de Francueil) voran.
Die größte Ablehnung und den bissigsten Spott erntete Marie v. E.-E. von Männern ihrer eigenen Gesellschaftsschicht.
Sie war fast 60 Jahre, als sie als Dichterin Anerkennung erlangte:
Aphorismus:
»Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: alle dummen Männer«
Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts
Marie von Ebner-Eschenbach - Eine Biographie
http://www.residenzverlag.at/
?m=30&o=2&id_title=1817
http://diepresse.com/home/spectrum/
literatur/4944508/Ein-Zimmer-fur-sich-allein
Zum Thema Pseudonym und Verschwinden: Elena Ferrante. Meine geniale Freundin.
Nein heißt Nein: Iris Radisch zur sogenannten »Enthüllung« der Identität der Autorin:
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-10/
elena-ferrante-identitaet-schriftstellerin-kommentar
Annibale Carracci »Aurora« 16.Jh
Museo Condé Chantilly.
Stefan Zweig (geb. 1881 in Wien, Freitod gemeinsam mit Gattin Lotte 1942 in Petrópolis, Brasilien)
Im 135. Jahr nach seiner Geburt und der steten Aktualität der Gedanken des Autors, scheint es angemessen, an sein Leben und zumindest 2 seiner Werke zu erinnern.
Außerdem gilt es einen hervorragenden Film zu besprechen.
»Die Sternstunden der Menschheit«enthalten 14 „historische Miniaturen“, deren erste fünf 1927 erschienen. Wie breit das Geschichtsverständnis Zweigs ist, zeigen bereits 3 Beispiele: 1453 Die Belagerung Konstantinopels, 1741 Entstehung von Händels Oratorium Messias, 1858 Verlegung des ersten Transatlantischen Kabels.
Solche dramatisch geballten, solche schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist, sind selten im Leben eines Einzelnen und selten im Laufe der Geschichte. Einige solcher Sternstunden – ich habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen – versuche ich hier aus den verschiedensten Zeiten und Zonen zu erinnern. Nirgends ist versucht, die seelische Wahrheit der äußern oder innern Geschehnisse durch eigene Erfindung zu verfärben oder zu verstärken.
Aus: Vorwort zu „Sternstunden der Menschheit“
»Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers«
Entstehung: 1939 bis 1941 im Exil, erschienen 1944 in Stockholm.
Denn losgelöst von allen Wurzeln und selbst von der Erde, die diese Wurzeln nährte, – das bin ich wahrhaftig wie selten einer in den Zeiten. Ich bin 1881 in einem großen und mächtigen Kaiserreiche geboren, in der Monarchie der Habsburger, aber man suche sie nicht auf der Karte: sie ist weggewaschen ohne Spur. Ich bin aufgewachsen in Wien, der zweitausendjährigen übernationalen Metropole, und habe sie wie ein Verbrecher verlassen müssen, ehe sie degradiert wurde zu einer deutschen Provinzstadt. Mein literarisches Werk ist in der Sprache, in der ich es geschrieben, zu Asche gebrannt worden, in eben demselben Lande, wo meine Bücher Millionen Leser sich zu Freunden gemacht. So gehöre ich nirgends mehr hin, überall Fremder und bestenfalls Gast; auch die eigentliche Heimat, die mein Herz sich erwählt, Europa, ist mir verloren, seit es sich zum zweitenmal selbstmörderisch zerfleischt im Bruderkriege.
Aus: Vorwort „Die Welt von Gestern“
http://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/
Biographien/Zweig,_Stefan
http://gutenberg.spiegel.de/autor/stefan-zweig-667
Vor der Morgenröte. Regie: Maria Schrader (2016)
In ästhetisch – tableauartiger Kompoaition werden 6 Episoden an verschiedenen Schauplätzen (z.B. Schriftstellerkongress in Buenos Aires, Wohnung in New York, Umgebung und Innenraum des Hauses in Petrópolis) und die jeweiligen Stimmungslagen des weltberühmten Autors im Exil gezeigt. (Josef Hader ist mit seinem nuancenreichen Spiel die ideale Besetzung.) Selten wird in einem Film so viel gesprochen: Österreichisches Deutsch in privatem Rahmen, mit Kollegen aus Deutschland und auf Pressekonferenzen „Hochdeutsch“, Spanisch nur abseits des Offiziellen; immer wieder ist das Ehepaar auf Dolmetscher angewiesen. . . . Die „Morgenröte“ scheint in zu weiter Ferne.
Stefan Zweigs Abschiedsbrief:
Declaracão
Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und [Streichung] meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.
Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die [Streichung] langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.
Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.
Stefan Zweig
Petropolis 22.II1942
https://de.wikisource.org/wiki/Abschiedsbrief_Stefan_Zweigs
Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=0V2qDEZfx48
Interview Maria Schrader:
https://www.youtube.com/watch?v=
3wLiyFyfuB4
http://www.zeit.de/kultur/film/2016-05/vor-der-morgenroete-maria-schrader-biopic-stefan-zweig
André Heller: Das Buch vom Süden.
Roman (2016)
Arnold Böcklin »Die Toteninsel« (1880)
„Nur im Süden ist Rettung . . . Ihr habt die Zypressen der Monarchie nicht mehr gekannt… Alles ist leichter im Süden. Im übertragenen und auch im wirklichen Sinn.“
Diese und ähnliche Sätze pflegt Julian Passauers Vater, stellvertretender Direktor des Naturhistorischen Museums, in Gespräche einzuflechten. Dass er nun auf den Reisen zu den geliebten Orten seinen Pass vorweisen muss, verzeiht er den ehemaligen „Majestäten“ nicht. Alle Personen, die Julians Kindheit in Schönbrunn begleiten, verströmen die Melancholie der untergegangen Welt. Nach der vom Vater finanzierten „Kavalierstour“ nimmt sich ein Meister des Kartenspiels des jungen Mannes an. Beim Pokerspiel lernt er, was er später vorzüglich brauchen wird, um als „fleißiger Taugenichts“ leben zu können: Ruhe und Menschenbeobachtung. In der üppigen Vegetation der Gärten am Gardasee entfalten sich alle Talente Julians zur vollen Blüte, nicht zuletzt unter dem Einfluss geheimnisvoller Frauen.
Ein Buch, das alle Sinne anspricht, barock, leichtfüßig-ironisch und philosophisch zugleich.
http://www.zeit.de/2016/19/andre-heller-das-buch-vom-sueden-romandebuet
http://derstandard.at/2000036007202/Andre-Heller-In-den-Duftbezirken-der-Fluechtigkeit
Peter Rosei. Die Globalisten (2014)
"Wir versuchen doch alle nur, auf der goldenen Kugel zu tanzen, ganz egal, wie und wohin sie rollt“, lässt der Autor eine seiner Figuren sagen. Wie in seinen Romanen „Geld“ (2011) und „Madame Stern“ (2013) bewegen sich Männer und Frauen unterschiedlichen Alters ausgehend von Wien in verschiedene Richtungen, um der offensichtlich alleingültigen Logik unserer Zeit zu folgen. Sprachlich und stilistisch charakterisieren die einzelnen Kapitel die Protagonisten entweder in ironischer Distanz oder anhand der Dialoge in ihrer entlarvenden, groben Verderbtheit.
Ein Kunstprojekt soll durch den bisher eher erfolglosen Schriftsteller Josef Maria Wassertheurer (welch ein Name!) ausgerechnet im literaturgeschichtlich so traditionsreichen Salzkammergut verwirklicht werden. Eine amüsante, bissige Abrechnung mit Auswüchsen unserer „globalisierten Welt“ und ihrer Spiegelung im Medien- und Kulturbetrieb.
http://oe1.orf.at/artikel/386693
http://www.literatur-blog.at/2014/10/peter-rosei-die-globalisten/
http://traunsee.salzkammergut.at/griass-di/oesterreich/veranstaltung/430116798/salzkammergut-festwochen-ein-fest-fuer-peter-rosei-es-zeigt-sich--tag-1.html
Monique Schwitter. Eins im Andern (2015)
Samuel Beckett Come and go.
Kurzdrama (1965/66)
Becketts Anweisungen für das Händereichen am Ende des Spiels
wikimedia.org/wiki/
„Was, wann, wo“ steht über den jeweils mit einem Männernamen, einem Motto und Orts- und Zeitangaben versehenen 12 Kapitel-überschriften. Der Schreibprozess der Ich-Erzählerin scheint etwas ins Stocken geraten (Gatte mit Spielsucht, zwei kleine Kinder). Eine spontane Internetrecherche erschreckt mit folgender Nachricht: Petrus, ein ehemaliger Geliebter, hat sich vor 4 Jahren aus dem Fenster gestürzt. Die Erinnerungen an Silvester 1992 bringen den Erzählfluss wieder in Gang. Die Spielarten der Liebe werden anhand von ehemaligen Bekannten in Anlehnung an die 12 Apostel erprobt. Ihr Mann soll unbedingt die Nr. 12 sein. Die sich in viele Äste verzweigende Handlung erhält so eine Struktur.
Aber welche Mikrokosmen, Lebensentwürfe und großartigen Dialoge erwarten uns! (Ich-Erzählerin und Autorin waren schließlich einmal Schauspielerinnen.)
Menschen bewegen sich – oft in unpassendem Schuhwerk - in ihnen feindlich gesinnter Natur, Tiere (Hund, Ratten, Pinguin) sind treue, verstörende, auch groteske Begleiter.
Versatzstücke aus den christlichen Religionen und Anklänge an literarische Werke (Beckett, der Sandmann Nathanael, Woyzeck, Lessing etc) dienen der Annährerung und Distanz. (Karoline von Günderodes Gedicht „Die eine Klage“, erschienen 1804, thematisiert die Verzweiflung über den Verlust des „Eins im Andern sich zu finden“.)
Diese Stimmungslage teilt die Ich-Erzählerin nicht, wie im folgenden Gespräch deutlich wird:
http://www.br.de/mediathek/video/sendungen/lesezeichen/lesezeichen-gespraech-328.html
Porträt – Lesung – Jurydiskussion
http://bachmannpreis.orf.at/stories/2709277/
Moritz Rinke. Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel. (2010)
Paula Modersohn-Becker: Moorgraben,
1900 bis 1902 (www.wikipedia.org)
Das vergangene Jahrhundert hatte es wahrlich in sich: Auch in Deutschland verließen Künstler ihre Ateliers und suchten sich möglichst abgeschiedene Orte, wo sie eindrucksvolle Naturphänomene, z.B. Moorlandschaften, malen konnten. Kürzlich feierte man in Worpswede – in der Nähe von Bremen – das 125-jährige Bestehen der Künstlerkolonie um Fritz Markensen mitten im bäuerlichen Umfeld von Viehzüchtern und Torfbauern.
Das von den Dorfkindern pünktlich zur Mittagszeit in Platt gerufene „Mahltiet“ legt einen der verwirrend verknüpften Handlungsfäden. Der auf Anordnung seiner in Lanzarote lebenden Mutter zur Rettung des Familienhauses am Rande des Moores aus Berlin angereiste, erfolglose Galerist Paul Wendland-Kück, geb. 1967, erinnert sich an seine Kindheit als Sohn und Enkel von Künstlern im Dorf. Die riesengroßen Bronzefiguren (von Luther, Willy Brandt, zwei Frauen der Familie bis zu Ringo Starr) seines Großvaters werden von einem Onkel (abschätzig mit dem Namen Nullkück versehen) mit Seilen an der Eiche des Gartens vor dem Versinken im Moor bewahrt. Weitere Fäden der Handlung führen zu den im Schatten der Gründergeneration stehenden Großeltern und zu den Eltern, sogenannten 68ern. Viele Geheimnisse umgeben nicht nur die NS-Zeit, sondern auch die Elternschaft von Personen. Mit Augenzwinkern wird das Zusammentreffen verschiedenster Menschen in skurrilen Situationen erzählt. Paul findet nach der Spurensuche in Worpswede für sein eigenes Leben Boden unter den Füßen.
Der bisher vor allem als Dramatiker bekannte Autor stammt auch aus diesem Ort. Seine Einschätzung und eine Leseprobe sind unter dem folgenden Link zu hören:
https://www.youtube.com/watch?v=cAYGR0paQyk
http://www.deutschlandfunk.de/die-buddenbrooks-von
worpswede.700.de.html?dram:
article_id=84650
Rafik Schami.
Das Geheimnis des Kalligraphen. (2008)
http://www.klett-map.de
Seit vielen Jahren begleiten uns die Texte des in Damaskus geborenen und seit 1971 im Exil in Deutschland lebenden Autors. Der promovierte Chemiker veröffentlichte unter seinem Pseudonym (übers. Damaszener Freund) zahlreiche Märchen, Kinder- , Jugendbücher und Romane, die orientalischen Themen und Erzählformen verbunden bleiben.
Über die Figur des in den 50er Jahren in Damaskus arbeitenden Kalligraphen Hamid Farsi erhalten wir Einblicke in dieses höchst künstlerische, aber auch politisch immer brisante „Handwerk“. Mit dem Gerücht, seine schöne Frau Nura sei verschwunden, wird der Handlungsreigen um deren Familie und Menschen am Rande der Gesellschaft erweitert.
Ein sinnlich und spannend erzählter, auch lehrreicher Roman, angesiedelt in der Welt der Großeltern der gerade in Europa Schutz suchenden Menschen aus Syrien.
Ausschnitt aus Interview:
Scheck: Sie haben mal gesagt, Sie schrieben deutschsprachige Literatur syrischer Herkunft. Ist das heute noch genauso?
Schami: Es ist genauso, würde ich sagen. Solange ich über Damaskus schreibe, dann kommt dieser Geruch von Damaskus. Ich schreibe natürlich auf Deutsch, und sehr gerne. Ich liebe die deutsche Sprache. Aber die Bilder – Sie sind ein großer Leser – die Bilder sind eher syrische Bilder, die Aufenthaltserlaubnis in der deutschen Sprache bekommen haben.
http://www.deutschlandfunk.de/
rafik-schami-zu-syrien-eine-vererbte-
demokratie-ist-keine.700.de.html?
dram:article_id=328836
http://www.hanser-literaturverlage.de/
buch/das-geheimnis-des-kalligraphen/
978-3-446-23051-4/
Ausblick:
Sophia oder Der Anfang aller Geschichten. (2015)
http://www.3sat.de/mediathek/
?mode=play&obj=54637
Adriana Altaras
Titos Brille: Die Geschichte meiner strapaziösen Familie (2011)
Die 1960 in Zagreb geborene und jetzt in Berlin lebende Schauspielerin, Regisseurin, Dozentin an der UdK usw. veröffentlichte 2011 ihr erstes Buch. Der große Erfolg ermutigt die Autorin, den Vorschlag von Regina Schilling aufzunehmen. Es entsteht ein interessanter, heiterer, oft nachdenklich machender Dokumentarfilm. (2014)
Es wird deutlich, dass über jüdische Familiengeschichten immer noch viele Einsichten über das vergangene Jahrhundert und die Gegenwart zu gewinnen sind.
http://www.br.de/radio/bayern3/inhalt/kino-und-dvd/
filmkritik-titos-brille100.html
Trailer u. Besprechung:
https://www.youtube.com/
watch?v=zSjX_UZlmWg
http://www.emma.de/artikel/
adriana-altaras-juedische-mutter-318105
Gespräch mit Altaras:
http://www.3sat.de/mediathek/?
mode=play&obj=41575
Ursula Krechel. Shanghai fern von wo (2008)
Shanghai 1933
Shanghais exterritorialer Hafen ist für ca
18 000 Menschen, die „in letzter Sekunde“ – bis Anfang 1940 - vor dem NS-Terror flüchten, die letzte Hoffnung. Sie nehmen die neunwöchige Schiffsreise und die Auflage, nur RM 10,- ausführen zu dürfen, auf sich. Es besteht keine Visumspflicht! Sie treffen auf eine verwirrende Stadt, eine schwüle „Spielhölle“, in welche außerdem die letzten beiden Jahrzehnte Flüchtlinge vor Krisen und Kriegen im ostasiatischen Raum gespült haben. Wie sollen Buchhändler, Kunsthistoriker, die Gattin eines ehemaligen Anwalts uvm aus Mitteleuropa hier überleben? Die offiziell Staatenlosen sehen sich Schikanen durch das Auswärtige Amt
Nazi-Deutschlands und das deutsche Konsulat ausgesetzt, die in den die Stadt okkupierenden Japanern willfährige Verbündete gefunden haben.
Diesem Roman gehen jahrzehntelange Recherchen und Gespräche der 1947 geborenen Autorin voraus. Anhand der Geschichte einiger konkreter Personen entsteht vor unseren Augen ein bedrückendes Panorama. (In vielerlei Hinsicht schwierig gestaltete sich die Rückkehr nach Europa.)
Eine der Personen ist Franziska Tausig, die Mutter des 2011 verstorbenen Schauspielers (er überlebte dank eines der Kindertransporte nach England). Sie soll wegen des Fehlens von Äpfeln zur Erfinderin der Frühlingsrolle geworden sein. Dem Sarg ihres Mannes darf sie nur alleine aus dem inzwischen errichteten Ghetto zum Friedhof folgen.
Bei ihrer Ankunft am Wiener Westbahnhof geht ein junger Mann auf sie zu und fragt: „Gnädige Frau, sind Sie vielleicht meine Mama?“
Ein Roman, der in Titel, Inhalt und Erzählform eindrücklich übermittelt, was es bedeutet, auf der Flucht zu sein.
https://www.perlentaucher.de/
buch/ursula-krechel/shanghai-fern
-von-wo.html
http://oe1.orf.at/artikel/213435
http://danielgraf.net/rezensionen/
ursula-krechel-shanghai-fern-von-wo/
Egyd Gstättner. Das Geisterschiff.
Ein Künstlerroman (2013)
Auchentallers Pension Fortino in Grado.
Foto: © Historische Postkarte
http://austria-forum.org
„Wir bringen die Jahrhundertwende in den Süden! Wir bringen den Jugenstil an die Adria!“
Von Geisterschiffen berichten Geschichtsschreibung und Märchen. Sie dienen allen Sparten der Kunst als Topos. Grado ist für Menschen auf der Flucht entstanden.
Josef Maria Auchentaller (1865-1949) ist in der frühen Zeit der Secession einer der erfolgreichsten Wiener Künstler des Jugenstils. Der kränkelnden Tochter wird der Aufenthalt am Meer geraten (ab 1902). Die Gattin Emma gibt in Grado einen Hotelbau in Auftrag, er soll vom Meer aus wie ein Schiff aussehen. Der Architekt Julius Mayreder verwirklicht die Idee, Auchentaller übernimmt die Außen- und Innengestaltung des Pension Fortino genannten Hauses. Die Gäste kommen in Scharen, nicht nur ehemalige Künstlerkollegen. Emma leitet als „erste Hotelchefin im österreichischen Küstenland“ den Betrieb.
Auchentaller erhält zunächst auch abseits der Metropolen Plakataufträge, er entwirft Schmuck. Dann malt er Ölgemälde seiner Familie und bekannter Personen und immer wieder den Blick aus seinem Atelierfenster. (Beeindruckend die riesigen Glocken der naheglegenen Kirche Sant´Eufemia.)
In den folgenden Jahrzehnten brechen immer wieder politische Veränderungen in das Leben der Famlie ein. Das Ende der Monarchie bedeutet für Österreich den Verlust des Zugangs zur Adria. Wien rückt in weite Ferne. Er ist endgültig vom kulturellen Leben und seinen Verdienstmöglichkeiten abgeschnitten.
Ab 1942 wird das Hotel zum „Geisterschiff“, hier erwarten Emma und ihr Gatte den Tod.
Der Autor verleiht dem Künstler eine Stimme, nur selten wird eine andere Perspektive gewählt. Wir werden Zeugen seiner Verzweiflung angesichts des Selbstmordes seiner Tochter (Arthur Schnitzler ist Gast in Grado, auch dessen geliebte Tochter wählt den Freitod.), sein Sohn wird glühender Mussolini-Verehrer. Die mit Verspätung eintreffenden österreichischen Zeitungen sind für ihn Vermittler der Todesmeldungen vieler früherer Weggefährten.
Neben der Annäherung an eine sensible Künsterpersönlichkeit erhalten wir Einblicke in den Kunstbetrieb und die private Seite vieler Menschen aus dem kulturellen Leben jener Jahrzehnte.
60 Jahre nach dem Tod des einst renommierten Künstlers ist es einer Reihe von Zufällen zu verdanken, dass sein Leben und Werk der Vergessenheit entrissen werden .
http://www.grado-adria.com/
grado-und-josef-maria-auchentaller/
http://www.literaturhaus.at/
index.php?id=10243
diverse Suchmaschinen: Bilder – Plakate - Fotos
René Freund. Mein Vater, der Deserteur. Eine Familiengeschichte (2014)
»Vater, stell dich in die Mitte. Hierher, ja . . .« Der erste Satz des Eingangskapitels »Familienstellen. Ursprungsbild« stimmt uns auf Tonart und Erzählform ein.
1979 stirbt der Vater, Gerhard Freund, erst 54-jährig. Sein Sohn ist damals 12, seine Schwester 8 Jahre alt. Die Frage „Hast du einen anderen Menschen erschossen?“ wird unbeantwortet bleiben. Die Kapitel werden mit Jahreszahlen überschrieben, sie folgen keiner Chronologie, sind eher behutsame Annäherungen an eine Person, die ohne ihren familiären Hintergrund nicht zu deuten ist.
Am 11.August 1944 verlässt der nicht ganz 18-Jährige mit „Kriegsmatura“ und militärischer Grundschulung vom Westbahnhof aus seine Geburtsstadt, um an der sogenannten Verteidigung von Paris mitzuwirken. Am 16. August 1944 treffen sie am Gare de l´Est ein, bald wird ihnen klar, dass ihre Einheit eingeschlossen ist. Tags darauf beschließen ein Mann, der „Papa“ genannt wird, und Gerhard Freund, nicht „einzusickern“, sondern „zu verschwinden“. . .
Jahrzehnte später findet der Sohn in der elterlichen Wohnung das auf einer französischen oder amerikanischen Schreibmaschine getippte Kriegstagebuch. (Basiert es auf zunächst handschriftlich verfassten Notizen?) Um diese Eintragungen gruppieren sich Erinnerungen (Fotos), Reflexionen, Geschichtliches, Eindrücke von der 2010 mit der Gattin und den Kindern des Autors unternommenen Reise zu den genannten Orten. (Der Vater eines Familienmitglieds überlebte als US-Soldat die Landung in der Normandie schwer traumatisiert.)
Die Kapitel über verschiedene Mitglieder seiner Familie und das „Schlussbild“ vervollständigen das Ringen eines Nachgeborenen, vertraute Personen besser zu verstehen.
http://www.renefreund.net/wordpress/?
page_id=383
http://diepresse.com/home/leben/
mensch/4196496/
Der-unbekummerte-Held
Sibylle Berg
Der Tag, als meine Frau einen Mann fand (2015)
Wer den lakonisch-spöttischen Blick auf mittelständisches Leben von Menschen in der Lebensmitte in Mitteleuropa mag, wird dieses Buch schmunzelnd, manchmal angeekelt und immer nachdenklicher werdend lesen.
Chloes noch in der Hippie-Tradition verankerte finnische Schwiegermutter ist die Eigentümerin der Wohnung, in der sie mit Rasmus, einem ehemals erfolgreichen Regisseur, lebt. Die beiden führen seit 20 Jahren eine nach klaren Spielregeln funktionierende , kinderlose Beziehung. Chloe ist sorgsam darauf bedacht, das Ego ihres Gatten trotz deutlicher Misserfolge mit viel Verständnis zu stärken. Das tut sie auch, als sein Theaterprojekt in einem ungenannten „Schwellenland“ auf Desinteresse der Beteiligten stößt. Jedes der Kapitel verleiht einer der Personen seine Stimme. So werden wir intime Zeugen ihrer Probleme mit dem Sex.
Als der Masseur Benny Chloes Liebhaber wird, gerät ihr ironisch-heiter ertragenes Leben „aus den Fugen“.
Es gibt thematische Parallelen zum ersten Roman der Autorin mit dem unverwechselbaren Stil: „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (1997).
Schließlich sind dies die Urthemen menschlichen Seins, nicht mehr und nicht weniger.
Interview
http://derstandard.at/2000012606296/
Autorin-Sibylle-Berg-Es-sind-die-Hormone
Kolumne:
www.spiegel.de/thema/spon_berg/
Gustav Ernst. Grundlsee. (2013)
Der Autor, Mitbegründer und Herausgeber zweier Literaturzeitschriften, schuf im Laufe der Jahrzehnte Werke in allen literarischen Genres (Lyrik. Erzählungen, Romane, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher).
Das Salzkammergut als »Sommerfrische« und der Grundlsee wecken eine Fülle von Assoziationen. Hier nimmt die Geschichte einer Familie ihren Ausgang: In der Früh, ich möchte noch schlafen, kommen die Kinder zu uns ins Bett. Ich möchte noch schlafen, sage ich. John legt sich auf meine Brust. Er ist sieben . .
An diesen Ort kehrt Miranda, Johns Tochter, zurück: Von Hotels hat Papa aber niemals gesprochen. Hat es die damals überhaupt schon gegeben? Stehen die vielleicht dort, wo früher das Haus war und der Garten mit den alten Bäumen, von dem Papa erzählt hat, mit dem Buschwerk und den dunklen Winkeln, die Papa immer etwas Angst gemacht haben.
Der Vater fungiert als Ich-Erzähler, die Handlung jedes Kapitels umfasst jeweils einen Tag an verschiedenen Schauplätzen (Grundlsee, Amsterdam, Triest etc). Die Zeitsprünge und die jeweilige Situation der einzelnen Mitglieder der Familie erschließen sich wie nebenbei aus den Dialogen. In den Gesprächen klingt die Vertrautheit aus den gemeinsamen Urlaubstagen an. Dennoch führt die Magie des Ortes die in alle Erdteile verstreuten Menschen nicht mehr zusammen. Sterben und Tod bestimmen jedes Kapitel. Am Schluss räsoniert der (tote) Ich-Erzähler: Wahrscheinlich weiß ich bald nicht mehr, wie viele Kinder ich gehabt habe. Ihre Namen und den meiner Frau weiß ich schon längst nicht mehr. . . .
Ein Zustand, den ich mir ganz flach vorstelle, ganz dünn, ganz durchsichtig. Wie eine Frischhaltefolie. Die langsam zerfällt.
Wir werden sehen.
Die schnörkellose Sprache und der raffinierte Aufbau des Romans vermitteln auf intensive, verdichtete Weise die Lebensläufe dreier Generationen. Als Nachhall bleiben große Vertrautheit mit den Personen und Nachdenklichkeit.
http://www.literaturhaus.at/
index.php?id=9861
http://lesen.tibs.at/content/erwachsene/
gustav-ernst-grundlsee
http://www.buecherrezensionen.org/
buecher/rezension/gustav-ernst-grundlsee.htm
Friederike Mayröcker zum 90. Geburtstag
Eine kleine Auswahl an „Einstiegshilfen“ in das umfangreiche Werk der vielfach ausgezeichneten österreichischen Dichterin soll Mut machen, sich mit ihren Texten zu beschäftigen:
Biografisches und Literarisches: http://orf.at/stories/2258099/2258136/
Über einen Dokumentarfilm: www.suhrkamp.de/mediathek/friederike_
mayroecker_das_schreiben_und_das_
schweigen_296.html
Zum Nachhören: „Meinen Schatten wirft ein Fliederbaum“
http://oe1.orf.at/programm/392404
Lyrik: http://www.planetlyrik.de/friedericke-mayrocker-gesammelte-gedichte/2010/06/
http://www.poetenladen.de/theo-breuer-friederike-mayroecker.htm
Die Klangarbeiten (in Zusammenarbeit mit Bodo Hell) für den Durchgang zwischen zwei Höfen des Wiener Museumsquartiers aus dem Jahr 2010 beweisen, dass FM seit den Erfolgen ihrer z.T. mit Ernst Jandl gemeinsam verfassten Hörspiele in unterschiedlichsten Ausdrucksformen arbeitet.
http://www.tonspur.at/w_35.html
»Das Schreiben ist mein Leben. Aber ich muss sagen, ich lebe auch sehr, sehr gern. Und ich hasse den Tod. Ich finde es furchtbar, dass ein Mensch eine gewisse Zeit auf der Erde herumspaziert und dann einfach weg ist. Auch der alte Mensch hat noch Ideen und möchte vieles machen, was dann aber durch den Tod abgeschnitten wird. Ich habe noch viel vor.« Interview: FALTER 51/14 S. 26
Teresa Präauer
Jonny und Jean (2014)
Lassen die Mutproben im dörflichen Freibad auf Erfolg oder Misserfolg der Personen im späteren Leben schließen?
Der erste Satz des Romans lautet: „Ich stelle mir vor, wie ich als Bub auf dem Land lebe.“
Programmatisch für ihre Biografie werden die beiden Hauptfiguren mit Spitznamen bedacht, die aus dem Englischen und dem Französischen stammen.
Episodenhaft nehmen wir teil am Bemühen der jungen Männer, sich als Kunststudenten zu orientieren und als Künstler zu etablieren. Jonnys Ich-Stimme leitet und kommentiert. Namen aus Kunsttheorie und Kunstbetrieb, Literatur, Film und Musik zeugen (augenzwinkernd) von seiner Anstrengung den erfolgreichen Jean „einzuholen“ und als Freund zu gewinnen; in Traumsequenzen kommt er z.B. sogar mit Marcel Duchamp ins Gespräch.
Eine Beschreibung des 121 x 184 cm großen Gemäldes „Jungbrunnen“ von Lucas Cranach d. Ä. (1546, Gemäldegalerie, Berlin) beschließt den Roman.
„Aber sieh dir diese Badenden noch einmal genau an! – Ach Cranach.“
Wir wollen die Aufforderung der 1979 in Linz geborenen Künstlerin gerne befolgen.
http://www.literaturhaus.at/
index.php?id=10417
http://fm4.orf.at/stories/1743839/
Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse:
http://www.3sat.de/mediathek/?
mode=play&obj=46538
Tipp: Wolf Haas, Teresa Präauer (Illustration). Die Gans im Gegenteil. (2010)
Video: http://www.hoffmann-und-campe.de/
buch-info/die-gans-im-gegenteil-buch-2378/
Franz Kain. In Grodek kam der Abendstern. (1994)
Gródek, im damaligen Galizien unweit von Lemberg gelegen und durch die polnischen Teilungen seit 1772 Teil des Habsburgerreiches, war seit Ende August 1914 Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen. Nach der Eroberung von Lemberg durch russische Truppen wird der 27-jährige Georg Trakl in Grodek einem Feldlazarett als „Medikamentenakzessist“ zugeteilt. Seine Erlebnisse und die Verzweiflung, den Schwerstverwundeten nicht helfen zu können, stürzen ihn eine tiefe seelische Krise. In diesen Tagen entstand das Gedicht„Grodek.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/5445/82
Mathias Roth, ein Bergarbeiter und Salinenbediensteter aus Hallstatt, begleitet ihn als sein Offiziersdiener in das Garnisonshospital in Krakau, wo Trakl am Morgen des 3. November 1914 tot aufgefunden wird.
Der 1922 in Bad Goisern geborene Autor Franz Kain stieß auf Aufzeichnungen des erst 1965 verstorbenen Mathias Roth.
http://www.literaturhaus-salzburg.at/content.php?id=90&programmdetail=1228
Dieser aus der Perspektive des ehemaligen „Burschen“ des bekannten Lyrikers verfasste Roman fügt bislang nicht bekannte und berührende Sichtweisen zu einem der vielen an diesem Krieg zerbrochenen jungen Menschen hinzu.
http://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Biographien/Kain,_Franz
http://www.memorial-ebensee.at/de/images/stories/WWWRun-Ordner/BetrifftWiderstand/bw2009Nr.2WEB.pdf
Thomas Bernhard. Alte Meister
gezeichnet von Mahler (2011)
Der bekannte Comiczeichner Nicolas Mahler bekommt von einem Verlag das Angebot, ein literarisches Werk als Graphic Novel zu gestalten. Der Künstler entscheidet sich für Thomas Bernhards Roman Alte Meister. Eine Komödie, erschienen 1985.
Aus der Perspektive Atzbachers, des Ich-Erzählers (mit äußeren Merkmalen Mahlers versehen), hören wir dem Musikkritiker Reger bei seinen Betrachtungen über Kunst und Philosophie zu.
»Tatsächlich denke ich, dass das Kunsthistorische Museum der einzige Fluchtpunkt ist, der mir geblieben ist, sagte Reger, zu den Alten Meistern muß ich gehen, um weiterexistieren zu können, genau zu diesen sogenannten Alten Meistern, die mir ja längst schon seit Jahrzehnten verhaßt sind.«
Mahler verändert und kürzt die Vorlage, er ergänzt die essentiellen Aussagen meisterhaft mit den visuellen Mitteln des anderen Mediums.
http://www.suhrkamp.de/graphic-novel/
nicolas-mahler/alte-meister_1015.html
http://literaturcomic.phil.hhu.de/?p=352
http://www.karikaturmuseum.at/
de/ausstellungen/
nicolas-mahler.-wer-alles-liest-hat-nichts-begriffen#&panel1-5
2013 Mann ohne Eigenschaften. Mahler nach Robert Musil.
Saša Stanišić. Vor dem Fest (2014)
Fürstenfelde in der Uckermark. „Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot . . . Wie der Fährmann ertrank, hat niemand gesehen. . ." Aus der Wir-Perspektive wird uns ein überschaubarer Personenreigen der Bewohner des kleinen Ortes vorgestellt: meist ältere Menschen, die sich mit unterschiedlichen Tätigkeiten und Erinnerungen die Tage vertreiben. Auch eine Füchsin auf der Suche nach Nahrung für ihre Welpen erhält eine Stimme. Johann, der Sohn der Archivarin im Haus der Heimat, ein Azubi - er möchte das Glockenläuten übernehmen - darf einmal in der Ich-Form sprechen. Ab und zu kommen Menschen von draußen in den Ort, Reporter oder ein ungleiches männliches Paar, das in Reimen spricht. (Begründung der Jury zur Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse 2014 an den Autor: „Ein Roman als furioser Chorgesang in Prosa“)
In der Nacht vor dem Annenfest ("Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat genau an diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.") haben sich auch die alten Chroniken und Dokumente des Archivs verselbständigt. Aus den Tiefen der Geschichte tauchen in der dazu passenden Sprache Ereignisse und Motive auf, die denen der Gegenwart sehr ähneln.
Frau Kranz, vor langer Zeit aus dem Banat zugewandert, fertigte in den vergangenen Jahrzehnten zahllose Gemälde in Öl, eine in Bilder gegossene Ortschronik mit Titeln wie „Der Neonazi schläft“ oder „Sparkasse im Sonnenuntergang“. Für das Fest hat sie ein ganz besonderes Werk geschaffen . . .
Der „Dorfgeschichte“ als literarischer Gattung der Abbildung der Welt im Kleinen kann ein poetisch-humorvoller, aktueller Text hinzugefügt werden.
Rückblick: Das Dorf Makondo des kürzlich verstorbenen kolumbianischen Autors Gabriel Garcia Marques ist ein weltweit bekanntes Beispiel.
In seinem 2006 erschienen Roman „Wie der Soldat das Grammofon reparierte“ beschäftigte sich der 1978 in Bosnien geborene Autor Stanišić zum ersten Mal intensiv mit den strukturellen Problemen der „Provinz“ und der zunehmenden Abwanderung junger Menschen.
http://www.randomhouse.de/Buch/Vor-dem-Fest-Roman/Sasa-Stanisic/e210016.rhd
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/jeder-ort-ist-heimat-1.18261461
Rezension + TV-Porträt:
http://www.dw.de/saša-stanišić-und-die-kunst-des-erzählens/a-17513114
Thomas Meyer.
Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse (2012)
Neu:
Jiddisch-Glossar und Matzenknödel Rezept
Was bedeutet Jiddischsein für einen jungen (25 jährigen) Mann mitten in einer europäischen Universitätsstadt? Mordechai Wolkenbruch lebt in Zürich als Sohn orthodoxer Juden; wie auf vielfältigste Weise tradiert, wacht vor allem seine mame darüber, dass „Motti“ sein Leben (Essen, Kleidung, Wahl der Ehefrau) im Sinne der Tradition gestaltet. Seit die schöne nichtjüdische Studentin Laura seine Aufmerksamkeit erregt, nimmt sein Blick sich und seine Gemeinschaft immer öfter von außen wahr. Folgerichtig kauft er sich eine neue Brillenfassung in einem nichtjüdischen Geschäft. Der bittere Kommentar der Mutter zieht einen Vergleich zu Woody Allen. Tatsächlich ähnelt der Ton dieser Entwicklungsgeschichte dem liebevoll-sarkastischen Stil des großen Filmemachers. Ein besonderer Kunstgriff ist das nahtlose Einflechten jiddischer Wörter, die Atmosphäre schaffen und immer vertrauter werden.
LETTRA TV:
http://www.youtube.com/watch?v=
v5IrorzzzMw
http://fm4.orf.at/stories/1700840/
Meyer O-Ton: Erklärung von jiddischen Wörtern:
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/
Wenn-moeglich-kein-Schweizer-Regisseur/story/21706516
Urs Widmer
Der Geliebte der Mutter (2000)
Mit dem Todestag Edwins, eines sehr berühmten Dirigenten, beginnt der Roman, eine Begegnung mit der Ich-Figur und der Tag der Beerdigung mit den pompösen Trauerfeierlichkeiten beenden ihn. (Musikkenner und mit den Wirtschaftsmagnaten der Schweiz Vertraute lesen den Text als „Schlüsselroman“)
Ebenso umfangen von diesem begabten, geschäftstüchtigen Musiker war das Leben Claras, der Mutter: Die Mutter liebte ihn ihr ganzes leben lang. Unbemerkt von ihm, unbemerkt von jedermann. Durch viele Episoden ihres Lebens erahnen wir, weshalb die Frau (aus einer späteren Zeitangabe lässt sich ihre Geburt mit 1905 datieren) zu ihrer sturen Leidenschaft Zuflucht nahm.
Ihr Vater, bis 1929 der reiche Vizedirektor einen Maschinenfabrik, stammte aus einer Säumer-Familie südlich des Simplonpasses. Sein für die damalige Zeit ungewöhnliches Aussehen erklärt sich aus dem aus Afrika geflohenen Urgroßvater, der am Morgen nach seiner Ankunft in dem Bergtal verstarb.
Clara leidet insbesondere nach dem frühen Tod der Mutter unter ihrem despotischen Vater. Ständig wird „ihre Art“ kritisiert. Sie versinkt oft in Tagträumen, nachts wird sie von erschreckenden oder beglückenden Träumen begleitet. Als junge Frau (sie sieht aus wie „ein Kind der Sonne“) erlebt sie die faszinierenden Konzerte des Jungen Orchesters, es spielt Bartók, Zemlinsky, später Ligety, Strawinsky u.a. Sie findet „ihre Art“ in dieser Musik, der Arbeit für das Orchester und vor allem in ihrer Liebe zum Dirigenten, Edwin. Nach einem Gastspiel kommt es in Paris zur ersten Liebesnacht, in ihrer Wohnung folgen weitere kurze Begegnungen. Sie widerspricht seinem Verlangen, eine Abtreibung durchführen zu lassen, nicht. Nach den Tod des Vaters findet sie für kurze Zeit Geborgenheit bei der italienischen Verwandtschaft. (Ihr Cousin Boris wird zum fanatischen Duce-Anhänger; er führt später das vom Vater aufgebaute Weingut in den Konkurs.)
Als Edwin die Erbin jener Maschinenfabrik heiratet, muss die Mutter in eine Klinik. Es folgen Phasen völliger Angepasstheit, sie hat geheiratet, einen Sohn geboren – den Ich-Erzähler, dem gegenüber sie immer seltsam distanziert bleibt. Die „Außenwelt“ der Jahre 1939 – 1945 wird durch das Schicksal der Cellistin und Sami Sterns charakterisiert.
Immer wieder verbringt sie Zeit in Sanatorien.
Zu ihrem Geburtstag bekommt sie jedes Jahr Orchideen und ein Kärtchen mit Alles Gute, E.
Als diese Wünsche eines Jahres ausbleiben, flüstert sie ständig den Namen des
Geliebten und beginnt „seltsame Dinge zu machen“. Als Greisin unternimmt sie noch weite, nicht ungefährliche Reisen.
82-jährig öffnet sie das Fenster ihres Zimmers im Heim für alte Menschen und springt „Edwin“ schreiend, aus dem sechsten Stock .
Das Handlungsgerüst kann die magische Wirkung der sachlichen, manchmal melancholisch oder humorvoll gefärbten Sprache ebenso wenig wie die kunstvoll verwobenen Handlungsstränge durch die Jahrzehnte des vergangen Jahrhunderts wiedergeben.
Die Geschichte ist erzählt. Diese Geschichte einer Leidenschaft, einer sturen Leidenschaft. Dieses Requiem. Diese Verneigung vor einem schwer zu lebenden Leben.
Im April 2014 verstarb dieser unvergleichliche Schweizer Autor.
http://oe1.orf.at/programm/368313
Thomas Glavinic
Das größere Wunder (2013)
Hortus Deliciarum, Der Prophet Jonas wird vom Fisch bei Ninive ausgespien. Circa 1180
Wieder gibt der Autor seiner Hauptfigur den Namen Jonas.
Zwei Handlungsebenen werden parallel erzählt: Jonas bei seinem mühevollen Unterfangen den Mont Everest zu besteigen und Rückblenden in verschiedene Phasen seines vorangegangenen Lebens. Nachdem ein Liebhaber der trunksüchtigen Mutter ihn und seinen kranken Zwillingsbruder verprügelt, finden sie als Zehnjährige großzügige Aufnahme beim Großvater des gleichaltrigen Freundes. Eine Erziehung im herkömmlichen Sinne wird ihnen nicht geboten, dafür Ermutigungen zu verschiedensten Lebensentwürfen. („Antworten sind überschätzt.“) Die Heranwachsenden suchen in äußerst gefährlichen Unternehmungen ihr Selbst zu entdecken. Nach dem Tod seiner drei liebsten Menschen mäandert Jonas wie ein moderner Parzival durch die Welt. Bar aller finanzieller Sorgen und auf unerklärbare Weise alle Sprachen der Welt verstehend, ist er am Versuchen und am Suchen. Die Liebe zu einer Frau namens Marie geht ihm wieder verloren. Im Basislager zum höchsten Berg der Welt endet dieses faszinierende, vieldeutige Märchen über die „Verfasstheit“ unserer Zeit.
P.S. Die tragischen Begleiterscheinungen der touristischen Sogwirkung dieses Berges:
http://derstandard.at/1376534488522/Immer-auf-der-Suche-nach-dem-groesseren-Wunder
http://www.zeit.de/2013/38/roman-thomas-glavinic-das-groessere-wunder
Brigitte Kronauer. Gewäsch und Gewimmel. (2013)
Wer Erfahrungen mit dem lustvollen Betrachten von Wimmelbüchern hat, wird schnell Gefallen an diesem Roman finden. Passend zu unserer von unterschiedlichsten Reizen „bombardierten“ Wahrnehmung wird uns im ersten Teil eine Fülle von Personen in Dialogen und im „Gewäsch“ vorgestellt. Sie alle saßen irgendeinmal im Wartezimmer der Krankentherapeutin Elsa Gundlach. Rätsel und Sprach-Splitter unterschiedlicher Herkunft erweitern die Palette. Im zweiten Teil erzählt die nicht mehr junge Luise Wäns in der Ich-Form von ihrer Liebe zur Natur und einem jüngeren Mann. Der dritte Teil nimmt die Fäden des ersten Teils wieder auf. Die Lust der Leser am unkonventionellen und nicht-linearen Erzählen wird belohnt mit einem ehrlichen, z.T. ironischen Bild unserer diffusen Welt.
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/
video/1994380/Brigitte-Kronauer-auf-dem-blauen-Sofa
Kronauer im Gespräch: http://www.youtube.com/watch?v=
3AFDu2WpwxQ
http://swrmediathek.de/player.htm?
show=d1759e90-58dd-11e3-b292-0026b975f2e6
http://www.ardmediathek.de/hr2/hr2-buch-und-hoerbuch?documentId=18963886
http://www.3sat.de/mediathek/?mode=
play&obj=4002
Peter Henisch.
Mortimer & Miss Molly.
Roman (2013)
San Vito, ein kleiner Ort in der Toskana, führt zwei unterschiedliche Paare zusammen: 1944 Mortimer, einen amerikanischen Soldaten, und die 20 Jahre ältere Miss Molly, die englische Gouvernante einer italienischen Adelsfamilie.
Anfang der 1980er Jahre verbringen die österreichische Studentin Julia und der aus Turin stammende Medizinstudent, Marco, zum ersten Mal einige Zeit in diesem pittoresken Ort. Sie lernen einen alten Amerikaner – Mortimer – kennen, der ihnen den Beginn seiner Bekanntschaft mit Molly erzählt. Dann reist er ab. Julia und Marco spielen in ihrer Fantasie verschiedene Möglichkeiten der Fortsetzung dieser Beziehung durch. Ihr Traum für die Zukunft ist die filmische Umsetzung.
Das reale Leben der beiden verläuft in anderen Bahnen, bis eine weitere Zeitebene eine unerwartete Wendung mit sich bringt.
Der Reiz, der von der gekonnt verwobenen Handlung ausgeht, wird durch viele Anspielungen auf künstlerische Werke aller Genres erhöht. Bereits der erste Absatz schlägt den Grundakkord an: Jeder Satz bleibt in der Schwebe, der Konjunktiv betont den Variantenreichtum des Erdachten:
"Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schöne Szene.
Für einen Film, den ein Fellini hätte drehen können ... "
http://www.peter-henisch.at
http://derstandard.at/1379292388901/Liebe-Leid-und-Lust
Joseph Zoderer.
Der Schmerz der Gewöhnung. (2002)
Jul, ein in Bozen beschäftigter Journalist, verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Graz, weil seine Eltern zu den „Optanten“ gehörten. Zu Beginn der 70er Jahre verliebt er sich auf politischen Versammlungen in die Studentin Mara. In dieser Gruppe scheinen die historischen Gegensätze überwindbar. Sie ist die Tochter eines aus Agrigent stammenden Juristen - 1939 als faschistischer Funktionär zur Italienisierung eingesetzt - und einer deutschsprachigen Frau aus Bruneck.
Mara und ihre Geschwister wuchsen in einem Ort nahe den Südtiroler Bergen auf und beherrschen außer der deutschen Sprache auch das Schifahren. . .
Die Struktur der Handlung erschließt sich nach und nach. Ausgehend von gerade (in der Natur) Erlebtem oder Geträumtem umkreisen Gedankensplitter vergangene Episoden, vorrangig im Zusammenhang mit dem unbekannten, lange verstorbenen Schwiegervater, der Gattin Mara und der ertrunkenen Tochter Natalie.
Das Bild bleibt fragmentarisch. Der Titel erweist sich auch als Hinweis auf Juls Erschrecken vor seinen Ressentiments.
Ein Buch, dessen Themen immer aktueller werden: Erfahrung von Fremdheit, Erinnerungen, Suche nach Identität, insbesondere in einer Sprache.
www2.dickinson.edu/glossen/heft16/
wildner.html
www.uibk.ac.at/brenner-archiv/literatur/tirol/rez_02/
rottensteiner_der_schm.html
Wolfgang Herrndorf (1965- 2013)
Tschick (2010)
Tschik, Sohn von Russlanddeutschen, ist neu in einer Berliner Schulklasse. Er und Maik, wohnhaft in einer Villa, werden als Einzige nicht zur Party einer schönen Mitschülerin eingeladen. Die Ferien liegen wie eine große Ödnis vor ihnen. Doch Tschik klaut einen alten Lada und schlägt vor, Verwandte in der Walachei zu besuchen. Was sie auf dieser sich z.T. im Kreis bewegenden Fahrt durch den Osten Deutschlands erleben, begeistert Erwachsene und Jugendliche im Alter der Protagonisten gleichermaßen.
Die oft bizarren Schauplätze, die Begegnung mit unterschiedlichsten Menschen, die spannende Handlung und vor allem die dem Jugendjargon angenäherte schrille, manchmal melancholisch-heitere oder träumerisch-poetische Sprache des Ich-Erzählers Maik vermitteln eine freie, neugierige, überraschende Sicht auf Wohlvertrautes.
Dies ist das Werk eines Autors, der zunächst Malerei studierte, als Illustrator arbeitete und sich schließlich dem Schreiben widmete. Der 2010 diagnostizierte Gehirntumor trieb ihn zu einer rasenden Arbeitsweise, seinen Blog nannte er „Arbeit und Struktur“. Im Sommer 2013 beschloss er, die letzte Phase der Krankheit nicht mehr zu ertragen.
Das Interview mit Kathrin Passig lässt ihn nochmals zu Wort kommen:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/
autoren/im-gespraech-wolfgang-herrndorf-wann-hat-es-tschick-gemacht-herr-herrndorf-1576165.html
Ein liebevolles Porträt liefert folgender Artikel:
http://www.welt.de/kultur/
literarischewelt/article119601640/Der-Mann-der-aus-der-Welt-gefallen-ist.html
http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/
article119601640/Der-Mann-der-aus-der-Welt-gefallen-ist.html
Karl Bloßfeldt (1865 -1932) Eisenhut
Anna Rottensteiner. Lithops. Lebende Steine (2013)
Die titelgebende Pflanzengattung – betrachtet im Giordino Botanico in Rom – dient im vorletzten Kapitel als Deutungsmuster für die verschlossene, weibliche Hauptfigur, Dora. Ihr Vater, aus Palermo stammend, war 1939 als Lehrer mit ihr in ein Bergdorf nahe Bozen versetzt worden. Logis nahmen sie bei der Mutter des Ich-Erzählers, Franz. Die Verstrickungen der Menschen in die Politik dieser Jahre wirken weiter. Dora und Franz versuchen in Finnland an die Vertrautheit ihrer gemeinsamen Zeit als Kinder anzuknüpfen. Nach dem Rombesuch offenbart Dora in der Küche des Südtiroler Bauernhauses, was sie als ehemalige Bedienstete der Geliebten Mussolinis so viele Jahrzehnte belastet hat.
Ein „leises“ Buch, in dem die Auswirkungen des „Getöses“ der Ideologien auf menschliche Gemeinschaften und auf Individuen hörbar werden.
http://www.literaturhaus.at/
index.php?id=9831
Maria Eliskases. Frauenschuh (2013)
„Schon wieder ein Text über die Schriftstellerei, sagte der Kritiker und legte das Blatt beiseite.“ Diese Bemerkung zur Arbeitsweise „seiner Freundin“ dient als dialektischer Kunstgriff und gibt dem Roman über zwei Frauenfiguren „nach ihrer fruchtbaren Zeit“ die Struktur. Langsam und leise entwickelt sich die in der 3. Person erzählte Handlung um Elsa – die Autorin - und um die Ich-Erzählung ihrer „Kreation“, der „Gärtnerin“, erst im letzten Teil Susanna genannt.
Donau und Inn bilden die Achsen, denen entlang sich die Personen bewegen. (Einige Male „blitzen“ auch Erinnerungen an Wanderungen in der Umgebung von Schwaz und an das Ladinische auf.) Der oft schmerzvolle Prozess des Schreibens bringt Elsa dazu, über ihre Ehe, eine zu Ende gegangene Beziehung und ihre Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit nachzudenken. Ihre unter schwindender Sehkraft leidende „Kunstfigur“ – sie lebt in einem alten, geerbten Haus mit Garten im Sauwald - wird in einen dramatischen Zwischenfall verstrickt.
Die titelgebende Blume erhält eine tiefere Bedeutung. Einen von Elsa als bruchstückhaft bezeichneten Beginn eines weiteren Kapitels mit poetischen Träumen und an Gemälde von Hieronymus Bosch gemahnenden Visionen tut der Kritiker als wenig „brauchbar“ ab. Im letzten Kapitel ist Elsa neidvoll Teil des idyllischen Tableaus ihrer Romanfiguren, das Spiel hat sich ein weiteres Mal gedreht. . .
Ein faszinierender, vielschichtiger Text.
Collage Gerhard Carl Moser
Christoph Ransmayr. Atlas eines ängstlichen Mannes (2012)
„Ich sah . . .“ So beginnen alle 70 - mit knappen Titeln versehenen - Erzählungen über Begegnungen mit unterschiedlichsten Regionen und Menschen. Das ICH nähert sich zurückhaltend und behutsam („ängstlich“). In bester Traditionslinie zu Adalbert Stifter werden Bezüge jenseits des Beobachteten und Erlebten gestaltet. In einem furiosen Schlussteil klingen die meist weniger als 8 bis 10 Seiten umfassenden Geschichten aus.
Der Autor von vier Romanen pflegt seit Jahren die Liebe zur kleinen Form. Das Rohmaterial liefern „Angelhaken“ in Schreibheften, die er während seiner zahlreichen Reisen notiert hat. Daraus entstehen kunstvoll komponierte Miniaturen über entlegene Gebiete der Welt oder Schauplätze in Städten. Alle Sinne werden angesprochen, Naturgewalten, Pflanzen, Tiere begleiten die Kleinheit der Menschen. Konflikte der Gegenwart, Gestirne, ihre mythologische Deutung, archaische Vorstellungswelten und die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts sind Teil der Reflexion.
Verschiedenste Formen der Lektüre sind möglich, auch die zufällige Auswahl „wie mit dem Finger auf der Landkarte“ bietet sich an.
Die Stimme des Autors bei einer Lesung oder via Hörbuch verschafft den Texten eine weitere Dimension.
http://oe1.orf.at/artikel/293343
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/
buechermarkt/2017030/
Michael Köhlmeier, »Die Abenteuer des
Joel Spazierer« (2013)
Dieser „Schelmenroman“ beweist, dass es noch immer möglich ist, die Geschichte mehrerer Generationen zu erzählen. In diesem Fall beginnt sie vor 1956 in Ungarn und endet „nach der Wende“ in Wien. Die „Abenteuer“ des „Simplicius“ mit den vielen Identitäten führen ihn u.a. in die Schweiz, nach Belgien, Moskau und Kuba. Die Handlung mäandert in unterschiedlichsten Erzählformen und Stilen und bietet ständig wechselnde Leseerlebnisse. Ein großartiges Werk.
http://www.zeit.de/2013/06/Michael-Koehlmeier-Abenteuer-des-Joel-Spazierer
http://oe1.orf.at/artikel/330220
http://orf.at/stories/2166249/2166448/
http://derstandard.at/1358304731390/Das-Heroin-der-Illusionen
Ulf Erdmann Ziegler. Nichts Weißes (2012)
Während der Autor bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur („Bachmannpreis“) 2008 den Text „Pomona“ las, war auf seinem Pult ein rätselhaftes großes ß zu sehen. Durch den Titel und im Kontext des Romans „Nichts Weißes“ wird klar, dass Typgraphie als sinnstiftende ästhetische Komponente verstanden wird. Marleen Schuller, Mitte der 60er Jahre in Düsseldorf geboren, erlernt ihren Beruf bei den Kapazitäten ihrer Zeit und übt ihn mit viel Sensibilität und Genauigkeit aus. In diesen Jahren vollzieht sich der Wechsel vom Bleisatz zum Zeitalter der Computertechnik. Nach den Jahren in Paris scheint sie in New York das ihr entsprechende kreative Klima gefunden zu haben. In diesem „Entwicklungsroman“ werden neben dem Innenleben der Familie (Hausbau in Pomona, Autokauf, Katholizismus, Werbekampagne für o.b., der Vater lebt in einem Ashram, die große Liebe . . .) diese Jahrzehnte sinnlich erlebbar.
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur/
ulf-erdmann-zieglers-roman-nichts-weisses-1.17615983#
Robert Schindel. Der Kalte (2013)
Nach »Gebürtig« (1992, verfilmt 2001) ist dieser Roman der zweite Teil der geplanten Trilogie.
»1986 war das 1968 Österreichs« meint der Autor in einem Interview. Romanfiguren, Personen unterschiedlichsten Alters, politischer Einstellung, sozialer Zugehörigkeit bewegen und treffen sich an verschiedenen Schauplätzen Wiens und Umgebung. Edmund Fraul, Spanienkämpfer und Auschwitz-Überlebender, bildet mit seiner Frau Rosa und dem Sohn Karl, einem jungen Burgschauspieler, das innere Dreieck der Handlung.
Um die Atmosphäre dieser »Wendejahre«, die traumatischen Erinnerungen und Träume der Älteren, die Turbulenzen wegen der Wahl des Bundespräsidenten, der Uraufführung eines Theaterstückes und der Aufstellung eines Mahnmals zu vermitteln, setzt der Autor neben der Perspektive des Erzählers sieben weitere Ich-Stimmen ein. Zusätzlich verändern die während der Proben gesprochenen Macbeth-Zitate den Blick auf das »reale« Geschehen.
Faszinierend, wie sich Fraul sen. von seiner »Kälte« befreien kann. Es ist Schindel das gelungen, was er in einem Interview als die Qualität von Literatur beschreibt:
»Die Literatur vermag den Schein dessen, was tatsächlich passiert ist, zu durchdringen und so Authentisches über Sachverhalte auszusagen, auch wenn einzelne Fakten dabei nicht stimmen müssen. Literatur darf sich nicht im bloßen Nacherzählen historischer Wahrheiten erschöpfen. Der künstlerische Roman soll Unsichtbares sichtbar machen, er sollte den Nerv einer Zeit treffen.«
http://www.profil.at/articles/1306/560/352177/
robert-schindel-erst-toter-gleichmut
http://derstandard.at/1360161200008/
Waldheimat-und-Herztaubheit
Edgar Hilsenrath. Das Märchen vom letzten Gedanken. (1989)
Vom Völkermord an den Armeniern (1915) erzählt der 1926 geborene Autor in der Form eines orientalischen Märchens. Der letzte Gedanke des letzten Vertreters einer Familie durchlebt auf unterschiedlichste Weise Geschichte und Persönliches. Dieser Kunstgriff bewirkt ungeahnte Einsichten und emotionale Erschütterungen.
"Schon seltsam, was", sagt Hilsenrath und zündet sich eine neue Zigarette an. "Ausgerechnet zwei Juden aus Deutschland werden von den Armeniern dafür verehrt, dass sie den Völkermord thematisiert haben. Franz Werfel mit seinem kurz vor Hitlers Machtergreifung 1933 erschienenem Roman ,Die vierzig Tage des Musa Dagh' und meine Wenigkeit."
http://www.welt.de/welt_print/article1145074/
Mein-Freund-Edgar.html
Tipp: The Nazi & The Barber (NY, 1971)
Der Nazi & der Friseur (1977)
Barbara Frischmuth.
Woher wir kommen. (2012)
Drei Frauen dreier Generationen: Ada, die nicht 30jährige Künstlerin, ist mit ihrem Zwillingsbruder in Istanbul aufgewachsen. Martha, ihre Mutter, muss den ungeklärten Tod ihres Mannes auf dem Ararat verarbeiten. Tante „Lilofee“ hatte sich als 16-Jährige in einen entflohenen russischen Kriegsgefangenen verliebt. Als lokale Drehscheibe fungiert das „Seehaus“, eine Villa im Salkammergut, die von Martha als Gasthaus geführt wird. Neben Wien sind die Erinnerungen an das Leben in Istanbul der 1980er Jahre bedeutsam. Neben den vielfältigen inhaltlichen Facetten begeistern insbesondere Struktur und differenzierte Erzählweise dieses lesenswerten Romans.
http://oe1.orf.at/programm/323617
Sherwood Anderson (1876 -1941) Winesburg, Ohio. Eine Reihe von Erzählungen aus dem Kleinstadtleben Ohios (1919)
Neuübersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Eike Schönfeld (2012)
Zu Beginn zieht in der Rückerinnerung eines alten Mannes, betitelt „Das Buch vom Grotesken“, ein Reigen unterschiedlichster Personen auch an uns vorüber. In den folgenden lose miteinander verbunden Erzählungen begegnen wir diesen Bewohnern einer Kleinstadt in Ohio zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder. Familiäre Kontinuitäten gibt es nicht, tief greifende Veränderungen des Wirtschaftslebens kündigen sich an. Viele dieser Menschen scheitern an ihrem Unvermögen, ihre Gefühle und Erinnerungen in Worte zu fassen. Einigen bieten religiöse Wahnvorstellungen einen kurzfristigen Halt, damit verletzen sie wieder Mitmenschen. Frauen ziehen sich oft völlig in ihre Traurigkeit zurück. Georg Willard, der junge Reporter der lokalen Zeitung, Gesprächspartner vieler Personen, verlässt die Kleinstadt, um Schriftsteller zu werden. . .
Der inhaltliche und formale Einfluss dieses grandiosen Textes auf amerikanische Autoren der folgenden Generationen und Filme wie „Short Cuts“ von Robert Altman (1993) wird im Nachwort von Daniel Kehlmann mit großem Sachwissen erläutert.
(2012 erschien eine weitere Übersetzung ins Deutsche in einem anderen Verlag.)
http://www.wienerzeitung.at/themen_channel
/wz_reflexionen/vermessungen/437093_Die-Einsamkeit-der-Kleinstadt.html
Vea Kaiser. Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam. (2012)
Das Dorf – laut Aussage der 1988 geborenen Autorin „funktioniert es auf der ganzen Welt ähnlich“ – gibt bestimmte Strukturen des menschlichen Miteinanders vor. Dass es Außenseiter (in diesem Fall Großvater und Enkelsohn) schwer haben, thematisierten auch die Romane des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte dreier Generationen wird von Vea Kaiser in vielen komischen und skurrilen Details erzählt. Als Einschübe fungieren im wissenschaftlichen Ton (der Enkel beschäftigt sich mit Herodot) gehaltene historische Rückblicke ab der Urgeschichte. Die Handlung löst sich im harmonischen Wohlgefallen auf. Der kritische Anti-Heimatroman ist Geschichte.
http://fm4.orf.at/stories/1703399
http://www.youtube.com/watch?v=3JPdbOm-uPs
Lesung: http://www.youtube.com/watch?v=0v4g3M-4V_w
Ljudmila Ulitzkaja: "Das grüne Zelt". (2012)
Übersetzung von Ganna-Maria Braungardt
Die 1943 geborene Autorin kennt das Wissenschaftler- und Künstlermilieu, dem auch die Hauptfiguren dieses fast 600-seitigen Romans entstammen, gut. Wie bewältigen diese Personen das tägliche Leben und wie verwirklichen sie ihre intellektuellen Ansprüche in der Stalin-Ära und danach? Das Rad des Erzählens dreht sich um das Schicksal dreier Freunde (der Literaturlehrer begeisterte sie auf unorthodoxe Weise für die reiche Tradition der russischen Literatur) und ihrer Familien. Die Schilderung erschütternder bis grotesk-komischer Details öffnet die Augen für die uns oft unverständlichen Entwicklungen im heutigen Russland. Das Aufspüren des Titels im Text und dessen Deutung soll als zusätzlicher Anreiz zum Lesen dienen.
http://www.literaturimnebel.at/
http://derstandard.at/1350258899105/Der-dunkelgraue-Paradiesgarten50258824222/
Juli Zeh. Nullzeit (2012)
Was bewegt Menschen aus Deutschland eine beliebte Urlaubsinsel vor der Küste Westafrikas aufzusuchen? Sven, ein Jurist, wollte dem starren System seiner Heimat entfliehen. Er gründet – unterstützt von seiner Frau – in einer öden, abgelegenen Bucht eine Tauchschule. Jola(nthe), adeliger Abstammung und finanziell von ihrem Vater abhängig, will sich auf ihre Bewerbung für die Hauptrolle in einer Verfilmung des Lebens des Ehepaares Haas, österreichischer Tauchpioniere, vorbereiten. Gemeinsam mit ihrem sehr viel älteren Lebensgefährten Theo, einem wenig erfolgreichen Schriftsteller, hat sie um einen ansehnlichen Betrag zwei Exklusiv-Wochen gebucht. Schnell entwickelt sich eine verhängnisvolle Dreiecksgeschichte. Welche Bedeutung die Aufenthalte unter Wasser und die „Nullzeit“ (Zeit, die man ohne Kompressionsausgleich unter Wasser sein kann) haben, bleibt bis zum Schluss eine spannende, nicht eindeutig geklärte Frage. Die promovierte Juristin Juli Zeh weiß um die unterschiedlichen Deutungen der Wirklichkeit. In Svens Bericht werden Jolas Tagebucheintragungen eingeschoben. Kaum glaubt sich der Leser/die Leserin einer Deutung nahe, wird die Perspektive erneut verschoben . . .
http://www.juli-zeh.de/
http://www.zeit.de/video/2012-09/1848285802001
Christa Wolf (1929 - Dez. 2011)
Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud (2010)
Als Stipendiatin war die Autorin 1992 an das „Getty-Center for the History of Art and the Humanities“ in Santa Monica, Los Angeles County, Kalifornien gekommen. Diesen Aufenthalt wählt Christa Wolf als Rahmen, in den Erinnerungen, Reflexionen, Gespräche, Träume gewoben werden. Neben dem Alltag, der Forschungsarbeit, den sozialen Kontakten werden ihre Zeit als DDR-Bürgerin (gefeierte Schriftstellerin, kurze Zeit IM= informelle Mitarbeiterin und von der Stasi Bespitzelte) und das Leben deutscher Emigranten (Thomas Mann, Brecht, Feuchtwanger u.a.) thematisiert. Ein differenzierendes, abwechslungsreiches Buch, das als Porträt einer sich schonungslos analysierenden Frau beginnt, zu einem vielschichtigen Bild des vergangenen Jahrhunderts wird und Denkanstöße für die Analyse unserer Gesellschaft gibt.
http://oe1.orf.at/artikel/246543
http://www.litges.at/litges3/
Olga Martynova
»Sogar Papageien überleben uns« (2010)
Die Gewinnerin des Bachmann-Preises 2012 lebt seit 1991 in Deutschland. Auf Anregung einer Freundin liest sie einen Aufsatz über das Ostjudentum von Joseph Roth. Diesem entstammt der Satz, den die bisher in russischer Sprache schreibende Lyrikerin als Titel ihres ersten Prosatextes wählte. Der Roman ist in 7 große Abschnitte und zahlreiche Kapitel (z.B. Der Zeitfluss, das Zeitflussweib, die Bergvogelfrauen - Achilles und die Schildkröte) gegliedert. Die Ich-Erzählerin Marina aus Petersburg referiert während eines Kongresses in Berlin über Daniil Charms (1942 im Gefängnis während der deutschen Belagerung Leningrads verhungert) und weitere avantgardistische Künstler seiner Zeit. In faszinierenden Splittern erfahren wir von ihrem Leben, von ihrer Liebe zu einem deutschen Studenten vor 20 Jahren, von verschiedenen Epochen und politischen Systemen. Eine Zeitleiste am Beginn jedes Kapitels hilft bei der Orientierung durch diesen Fluss der Assoziationen und poetischen Bilder, oft im humorvollen Tonfall leiser Melancholie gestaltet.
http://www.droschl.com/programm/buch.php?
book_id=721
http://oe1.orf.at/artikel/260090
Tipps
Film: Charms Zwischenfälle. Regie Michael Kreihsl (1996)
Akademietheater Wien: Zwischenfälle. Szenen von Courteline, Cami, Charms. Regie: Andrea Breth (2011)
Marion Brasch
Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. (2012)
Viele Stilmittel des Mediums Radio prägen den mit liebevoller Menschenbeobachtung und teils mit ironischer Leichtigkeit erzählten Roman. Im Radio ist die 1961 in Berlin geborene Marion Brasch beruflich beheimatet. Diese Form lässt viel Spielraum für eigene Überlegungen zu den Einflüssen der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf diese Familie:
Die Eltern, aus jüdischen Familien stammend, lernten einander in London kennen. Der Vater wurde überzeugter Kommunist, der in es in der späteren DDR bis zum stellvertretenden Minister für Kultur brachte. Die Auseinandersetzungen mit den drei künstlerisch begabten Söhnen (Thomas war der auch „im Westen“ erfolgreichste und viele Jahre der Lebensgefährte der Schauspielerin Katharina Thalbach) prägten das „Nesthäkchen“ Marion zutiefst. . . In Interviews erläutert die Autorin, weshalb sie sich jetzt ihrer Familie literarisch annäherte.
http://www.youtube.com/watch?v=xNcQO_
hP8q
ttp://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/
1682978/
http://www.zitty.de/die-fabelhafte-welt-der-ddr.html
Cornelia Travnicek
Chucks (2012)
Seit 1917 werden die inzwischen nach dem Basketballspieler Chuck Taylor benannten Textilschuhe erzeugt. Mae, die Ich-Erzählerin des Romans, trägt täglich das Paar, das ihrem an Krebs verstorbenen Bruder gehörte. Mit ihnen entfernt sie sich immer weiter von ihrem bürgerlichen Elternhaus, lebt auf der Straße , macht intensive Erfahrungen und lernt in einem Aidshilfehaus Paul kennen. Getragen wird dieser Plot von einer eindringlichen, manchmal humorvollen, immer authentischen Sprache.
http://www.youtube.com/watch?v=lHbjMNlSWI4
Die 1987 geborene Autorin (http://bachmannpreis.eu/de/autoren/3782) erhielt bei den 36.Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt für den Romanauszug „Junge Hunde“ (http://bachmannpreis.eu/de/texte/4059) den Publikumspreis.
Amélie Nothomb
Der japanische Verlobte. Aus dem Französischen von Brigitte Große (2010)
Die 1967 in Japan geborene belgische Diplomatentochter kehrte mit 22 Jahren in ihr Geburtsland zurück, bietet Französischunterricht an und arbeitet in einem Konzern. In ihrem unnachahmlichen Schreibstil erzählt die Ich-Erzählerin von ihrer Liebesbeziehung zu Rinri, einem Sohn aus vermögendem Haus, von kulturellen Unterschieden und Missverständnissen im Alltag, spirituellen Erfahrungen beim Besteigen eines Berges und dem Anblick des Fuji. Nach der Lektüre bleibt der Eindruck, dieses rätselhafte Land ein wenig besser zu verstehen.
http://www.diogenes.ch/leser/katalog/
nach_autoren/a-z/n/9783257067460/buch
Josef Bierbichler.
Mittelreich (2011)
Der Autor ist seit Jahren als prägnante Persönlichkeit von Bühne und Kino bekannt. 2011 erschien sein Debütroman „Mittelreich“. Hinter diesem mehrdeutigen Titel verbirgt sich eine Familiensaga aus dem Teil Bayerns, den der Autor am besten kennt: die Orte um den Starnberger See. Wie sehr das vergangene Jahrhundert mit den Menschen – den „Einheimischen“, den Flüchtlingen, Gestrandeten, den Zuwanderern – auch die Landschaft veränderte, wird in einer an einen Barockroman erinnernden sprachlichen Wucht und Vielschichtigkeit vermittelt.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/
kritik/1640054/
Cécile Wajsbrot
Mann und Frau den Mond betrachtend. Roman; aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. 2003; (Französ. Originalausgabe: Caspar-Friedrich-Straße. 2002)
»Caspar David Friedrich besuchte Rügen häufig
und malte dort seine unvergleichlichen Himmel . . . Der Baum ist beinahe entwurzelt, er wird umfallen, auf dem Felsen aufschlagen . . . Alles ist in der Schwebe, die Katastrophe ist noch nicht über uns hereingebrochen, aber man spürt ihr Nahen, und obgleich die Hand der Frau vertrauensvoll auf der Schulter des Mannes ruht, trotz dieser zuversichtlichen Geste droht ein Unheil . . . « (46/47)
In Berlin wird ein Schriftsteller, der Ich-Erzähler, damit beauftragt eine Rede anlässlich der Einweihung einer neuen Straße zu halten. Sie soll den Namen des berühmten Malers der deutschen Romantik tragen. Neun seiner Gemälde geben ebenso vielen Kapiteln ihre Namen. Der Fluss der Assoziationen führt von der NS- und der DDR-Vergangenheit der neuen/alten Hauptstadt zu Erinnerungen an „Geistesmenschen“ vergangener Jahrhunderte und zu Reflexionen über die Gemälde C.D. Friedrichs.
»Die Fassade der Abtei ragt in den Himmel wie das einsame Gemäuer des Anhalter Bahnhofs, ein Erinnerungsstück für das, was einmal war, ein Zeuge der Zerstörung . . . Wo ist unsere Gegenwart? Was machen wir aus ihr? Sind wir fähig anzunehmen, was uns gegeben ist?« (107)
Die Erzählung über eine Begegnung, den Verlust und das Wiederfinden einer jungen Frau gewinnt zusehends an Raum. Das letzte „Riesengebirge“ betitelte Kapitel dieses klugen, sensiblen Textes schließt mit der aus der Bildbetrachtung abgeleiteten Hoffnung: „ . . . eine Verschwommenheit, die keine Auflösung bedeutet, sondern eine Öffnung, den Raum, um das Kommende zu empfangen.“ (140)
http://www.zeit.de/2004/03/L-Wajsbrot
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/165834/
Antonio Tabucchi
Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro. Roman.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. 1997.
Der im März 2012 in Lissabon verstorbene italienische Autor nahm sich eine reale Begebenheit zum Ausgangspunkt. Der Schauplatz Porto wird diejenigen begeistern, die Kriminalromane in berühmten Städten lieben. Die zahlreichen Bezüge auf Wissenschaft, Politik, Geschichte eröffnen einen weiteren Kosmos, in dem der zunächst aussichtslose Kampf gegen das seit der Salazar-Diktatur weiter bestehende Machtgefüge zur humanistischen Lebensaufgabe wird.
Michel Houllebecq »Karte und Gebiet«.
(La carte et le territoire. 2010) Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. 2011
„Jeff Koons hatte sich gerade von seinem Sitz erhoben und voller Begeisterung die Arme ausgestreckt. Ihm gegenüber saß Damien Hirst . . . „
So beginnt der Roman Houllebecqs, für den er 2010 den Prix Goncourt erhielt. Der Grundakkord ist angeschlagen: Das Spiel mit realen Figuren, das Ich mit eingeschlossen, Fiktion und Zukunftsvisionen. Der junge Maler Jed Martin arbeitet an einem weiteren Gemälde einer Reihe über prominente Personen mit dem Titel: Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf. Er glaubt, an Jeff Koons Porträt gescheitert zu sein und zerstört das Bild.
In Rückblicken wird Jeds bisheriges Leben angedeutet: Der Freitod der Mutter, die Beziehung zu seinem Vater, einem Architekten, und seine ersten künstlerisch-fotografischen Arbeiten. Erste Erfolge in der Kunstszene hatte er mit am Computer bearbeiteten Michelin-Straßenkarten, denen er Satellitenbilder der gleichen Region gegenüberstellt. Das titelgebende Leitmotiv des Bemühens um Übersichtlichkeit und Katalogisierung unserer Welt findet sich auch in der noch in unserem Jahrzehnt angesiedelten Ermordung der Romanfigur Houllebecq. Der Verkauf des Porträts des berühmten Schriftstellers ermöglicht dem Künstler Jed Martin ein zurückgezogenes Leben, in dem er sich angesichts der Auflösung der gewohnten Strukturen und Eigentumsverhältnisse filmischen Arbeiten über die Natur widmet. Der letzte Satz lautet: Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.
Den verschiedenen Zeit- und Inhaltsebenen entsprechen unterschiedlichste Erzählformen, von der sachlichen Beschreibung, dem ironisch-bissigen Kommentar bis zum melancholischen Abgesang.
Der Autor liefert uns den Fingerzeig:
"Ich mag es, wenn ein Roman mehrere Ebenen hat und damit verschiedene Zugangsmöglichkeiten. Ich finde es gut, wenn man das Buch mehrmals lesen kann und mal dem einen, mal dem anderen Erzählstrang folgt.“
http://oe1.orf.at/artikel/271701
Thomas Glavinic. Unterwegs im Namen des Herrn. 2011
Pilgerreisen erfreuen sich in den letzten Jahrzehnten steigender Beliebtheit. Kunstschaffende nehmen sich dieses Phänomens auf unterschiedlichste Weise an. (z.B. René Freund. Bis ans Ende der Welt - zu Fuß auf dem Jakobsweg. Ein Reisebericht.1999. Jessica Hausner. Lourdes. Film.2009) Der Ich-Erzähler und sein Freund, der Fotograf Ingo, beteiligen sich an einer Busfahrt von Wien nach dem von der röm.-kath. Kirche nicht anerkannten Ort Medjugorje, um „Menschen in ihrem Glauben zu erleben“ und weil die Fahrt nach Lourdes „mehr als das Doppelte“ kosten würde. Zu Beginn nehmen sie (beeinflusst von den Strapazen der Fahrt?) die anderen Reisenden großteils als groteske Figuren wahr. In dem kleinen Ort mit den angeblichen Marienerscheinungen lernen sie bald die in der Gastronomie Arbeitenden näher kennen. Die menschenverachtende „organisierte Abzocke der Pilgertouristen“ stört sie ebenso, wie sie zunehmend die gezielt aufgebaute „Leidensatomosphäre“ der Hilfesuchenden irritiert. Ingo gelingt der Befreiungsschlag, er bucht für sie beide einen Flug von Split nach Wien. Was sie jedoch – geschwächt durch Krankheit, Tabletten und Alkohol - auf der Autofahrt und in der Villa eines alten Bekannten des Vaters erleben, übertrifft die Geschehnisse im Pilgerort bei weitem. Knapp vor der Landung gerät der Flieger wegen eines Gewitters in heftige Turbulenzen und der Ich-Erzähler dem ursprünglichen Zweck seiner Reise sehr nahe.
http://www.thomas-glavinic.de/unterwegs-im-namen-des-herrn/
Tipp: Verfilmung des Romans „Wie man leben soll“. http://www.wiemanlebensoll.at/
Fallada-Porträt von e.o.plauen
Hans Fallada (1893-1947) „Bauern, Bonzen und Bomben“ (1931) Selbst in kleinsten räumlichen Einheiten zeichnen sich die künftigen Konflikte der 30er Jahre ab. Die Schreiber der lokalen Presse, Vertreter der Exekutive, der Politik, alle haben ihren Anteil daran. 1932 erscheint unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise bei Rowohlt „Kleiner Mann - was nun?“.
2011 bringt der Aufbau Verlag die ungekürzte Original-Fassung des 1947 in gekürzter und veränderter Form erschienen Romans „Jeder stirbt für sich allein“ heraus. Auf wahren Begebenheiten fußend, handelt er vom tragischen Versuch eines Berliner Ehepaars zum Widerstand gegen das NS-Regime. Trotz vieler Verfilmungen seiner Werke (in beiden deutschen Staaten) aus früheren Jahrzehnten kann nun durch zahlreiche Übersetzungen von einer Fallada-Renaissance gesprochen werden. Zu beachten sind auch die weltweit gespielten Bühnenfassungen .
http://www.zeit.de/2011/18/L-Fallada
http://www.muenchner-kammerspiele.de/
programm/kleiner-mann-was-nun/
Sabine Gruber. Stillbach oder Die Sehnsucht.
Private Lebensgeschichten und Ereignisse der „großen“ Geschichte sind oft auf fatale Weise verknüpft. In den späten 30-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begreift Emma ihr Weggehen aus ihrem Heimatort in der Nähe von Bozen zunächst als Befreiung. In Rom, wo sie in einem Hotel arbeitet, ist sie als „tedesca“ plötzlich von den politischen Konflikten betroffen. Den gleichen Weg nimmt Ines zu Beginn der 1970-er Jahre . . . „Der Roman im Roman“ zeigt den Personen der Rahmenhandlung, wie wenig sich die Protagonisten bis in die Gegenwart der Geschichte ihrer Länder entziehen können.
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur
/liebe_und_politik_hass_und_befreiung
_1.12949019.html
http://www.wienerzeitung.at/themen_channel
/wzliteratur/buecher_2011/385931_Gruber-Sabine-Stillbach-oder-Die-Sehnsucht.html
Josef Haslinger. Jáchymov.
Der Zufall führt zwei Menschen in Jáchymov/St. Joachimsthal im Erzgebirge zusammen. Der Mann, ein Verleger mit DDR-Vergangenheit aus Wien, hofft im Radonheilbad auf eine Linderung seiner Schmerzen. Die Frau sucht das Uran-Bergwerk, wo ihr Vater – einst der gefeierte Tormann der tschechoslowakischen Eishockeynationalmannschaft – ab 1950 Zwangsarbeit leisten musste. Im sachlichen Stil einer Chronik, die auf realen Personen und Ereignissen fußt, erlesen wir Familiengeschichten, die ein breites Panorama an historischen Details über das „Zeitalter der Ideologien“ vor uns ausbreiten.
http://oe1.orf.at/artikel/283059 http://oe1.orf.at/artikel/283442
Jonas Jonasson. (Übers. Aus dem Schwedischen: Wibke Kuhn) Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand.
Wer geistreichen, schrägen Humor liebt, ist mit diesem Buch gut beraten. Wie sonst könnte das vergangene Jahrhundert und seine „Männer, die Geschichte machten“, besser abgebildet werden als in der Form des Schelmenromans? Grandios werden die Fäden der Handlung nach der Flucht des Hundertjährigen aus dem Altenheim mit den Rückblenden auf sein bewegtes Lebens verknüpft.
Hörbuch gelesen von Otto Sander
Interview mit dem Autor:
http://www.youtube.com/watch?v=2Zh7wHHFl08
Benjamin Franklins »Glasharmonika« 1762
Alissa Walser: „Am Anfang war die Nacht Musik“. Roman. Piper Verlag, München, Zürich 2010. 256 S., geb., 19,95 €.
Der wie die Autorin am Bodensee geborene Franz Anton Mesmer erregte im späten 18. Jahrhundert von Wien bis Paris mit seiner Heilmethode, die er „animalischer Magnetismus“ nannte, große Aufmerksamkeit. 1777 wird ihm die junge, mit drei Jahren erblindete, äußerst erfolgreiche Pianistin Maria Theresia Paradis von ihrem Vater zur Heilung übergeben. Der Gang der Handlung kann in jedem Lexikon nachgeschlagen werden. In diesem Roman wird abwechselnd aus der Perspektive des Mediziners und seiner Patientin erzählt. Faszinierend, wie die sprachliche Gestaltung der „Seelenräume“ die Verbundenheit der beiden fühlbar werden lässt. Die seltsam künstlich klingende Sprache wird von Rezensenten mit dem Klang der Glasharmonika verglichen, auf der Mesmer gerne spielt: „Sie sei zufrieden. Mit sich. Ihrem Leben. Sehen, wozu denn? Klavier spielen kann ich auch ohne.“
Geschichtlich Interessierte finden viele atmosphärische Details, welche die Verstrickungen der beiden Figuren in die Zwänge ihrer Zeit zeichnen.
http://www.globe-m.de/de/boulevard/justinus-pieper-trifft-die-autorin-alissa-walser
http://glasharmonika.at/html/instrumente
_gh.htm
Tipp: Immer ich (April 2011)
Maja Haderlap. Engel des Vergessens.
Bachmannpreis 2011
„Das Kind begreift, dass es die Vergangenheit ist, mit der es rechen muss. Es kann nicht nur seine Wünsche und die Gegenwart hochhalten. . . ” S. 109
„Ich nenne sie Großmuttersprache, weil sie von meiner Großmutter . . . gesprochen wurde, mit der ich die meiste Zeit meiner Kindheit verbrachte . . . Bis zu meinem Eintritt in die Schule sprach ich nur Slowenisch und begann erst in der Schule Deutsch zu lernen. Ich bewegte mich in der kleinen, engen Welt der Gräben rund um Bad Eisenkappel, in die die große weite Welt nur gewaltsam und bedrohlich Eingang gefunden hat . . .” VOLLTEXT Nr.2/2011, S. 35
Mit diesem Roman betreten die Leiden und der Widerstand der Kärntner Slowenen, die Deportation von über 220 Familien ab 1942, die erzwungene Politik des Vergessens von 1945 bis in die Gegenwart die deutschsprachige Literatur. (Als Lyrikerin wählte Haderlap die slowenische Sprache.) Aus der Sicht eines lange nach Kriegsende geborenen Mädchens wird geschildert, wie das Vergessen den damals Betroffenen (Großmutter, Vater, Verwandten) nicht möglich ist und die Erinnerungen die nächste Generation prägen. (Erschütternd, welche Wirkung die Fernsehbilder aus dem Krieg im Nachbarstaat Jugoslawien ab 1991 auf diese Menschen hat.)
Der Wald, die Grenze, die Sprache sind die wichtigsten Leitmotive dieses vielschichtigen Romans.
Der Ausschnitt, für den die Autorin 2011 den Bachmannpreis erhielt, ist zu lesen auf: http://bachmannpreis.eu/de/texte/3336
Anregungen:
Ein Onkel der Autorin veröffentlichte in Slowenisch:
http://www.literaturwiki.uni-klu.ac.at/index.php?title=Anton_Haderlap
Über den Roman: http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/h/maja_haderlap.htm
Geschichte und Erinnern: http://www.persman.at/default2.asp?lang=de
Maria Eliskases. Goldfisch oder der schwedische Archimedes. (2011)
Die 60er und frühen 70er Jahre in der österreichischen Provinz – in diesem Fall bei einer Familie, deren Vater, ein Berufsfischer, früh gestorben ist. Die Mutter und der halbwüchsige Sohn führen mit Unterstützung der Großmutter und der kleinen Tochter das Gewerbe und den Verkauf von Zeitschriften, Schreibwaren weiter. Alle Handgriffe sitzen, Worte sind selten nötig. Mit großer sprachlicher Sorgfalt werden aus der Sicht des Mädchens die Personen und ihre verschiedenen Tätigkeiten, Beziehungen, Sehnsüchte und Träume geschildert. Rock ´n´ Roll, die Töchter der Sommergäste, die Motorisierung bringen einen neuen Rhythmus in die bisher vertraute Welt. Die Natur, insbesondere der See mit seiner Ruhe oder plötzlichen Gewalt bestimmen jedoch weiter das Leben der Menschen. Die im Titel und im Titelbild (Helga Hofer. o.T., Öl auf Leinen) anklingenden geheimnisvollen Grundmotive verknüpfen die 19 Kapitel (z.B. „Der Viechtauer“, „Crazy Little Mama!“ „Die Metzgermitzi“). Dieser Text ist auf vielfältige Weise zu lesen und zu genießen. Kenner des Salzkammerguts werden sich zusätzlich an den vielen regionalen Bezügen erfreuen.
Andrea Grill. Zweischritt. (2007)
Der Zweischritt ist ein Volkstanz im Zweivierteltakt. Welche Bewegungen führen junge Wissenschaftlerinnen von heute durch? Der Radius der Ich-Erzählerin berührt Orte in Europa (Wer kann der Versuchung widerstehen, die Biografie der Autorin zu Hilfe zu nehmen?) und Brasiliens. Oft ist die Ich-Erzählerin im Flugzeug unterwegs, die Gedanken bewegen sich kreisförmig nach vor und zurück. Auch die sogenannte Realität bietet keinen Halt. Verwirrende Eindrücke, Begegnungen mit Menschen, die Forschungen über Schmetterlinge, Reflexionen über die eigene Identität, Erinnerungen und Träume. Faszinierend, wie treffend die Sequenzen innerhalb der 24 Kapitel in Wortwahl und Form gestaltet sind. Ernsthaft und philosophisch kommt so mancher Gedanke daher, um gleich darauf grotesk in Frage gestellt zu werden. Eine vielschichtige, rasante Erzählform, die mit Esprit und Witz die Widersprüche unserer Zeit abbildet. http://www.buchkritik.at/kritik.asp?IDX=4656
http://www.falter.at/web/shop/
Vladimir Vertlib. Am Morgen des zwölften Tages. (2009)
Bagdad 1932
Alles hängt mit allem zusammen – oder auch nicht? Dieser Roman möchte mündige Leserinnen und Leser. Sie selbst sollen sich entscheiden, ob sie ihn vor allem aus der Perspektive der Zeit nach 09/11 und der 39-jährigen Astrid Heisenberg lesen. Ihre Tochter stammt aus einer kurzen, leidenschaftlichen Beziehung zu einem Mann aus Bagdad. Oder interessieren vor allem die Lebenserinnerungen des bekannten Orientalisten Sebastian Heisenberg, Astrids Großvater? Er nahm 1941 für die deutsche Abwehr an einer militärischen Mission im Irak teil. Es sollte der Einfluss der Briten durch eine „faschistische Perspektive für die muslimische Welt“ zurück gedrängt werden. (Der Anhang listet die interessanten historischen Bezüge auf.) Welche Schlussfolgerungen über die Kontakte zwischen Okzident und Orient sollen aus den beiden Erzählsträngen gezogen werden? Wie auch in anderen Romanen des aus Leningrad (heute Petersburg) stammenden österreichischen Autors – Letzter Wunsch, Das besondere Gedächtnis der Rosa Mansur – wird ein anspruchsvolles Thema ohne Bevormundung und Wertung in oft leicht ironischem Unterton erzählt.
http://www.furche.at/system/downloads.php?
do=file&id=1437
Silke Scheuermann. »Shanghai Performance«. Roman. Frankfurt/M. (2011)
Shanghai-Map
Ausgerechnet in Shanghai will die international bekannte Künstlerin Margot Wincraft - die Autorin nennt in einem Interview Anlehnungen an Vanessa Beecroft - ihre nächste Performance durchführen.
Ist für den internationalen Kunstmarkt der Hype um China nicht bereits vorüber?
Die Ich-Erzählerin, die promovierte Assistentin Luisa, beobachtet an Margot eine seltsame Unruhe und Irritation. Die pulsierende, schwüle Metropole Shanghai spiegelt die Geschäftigkeit und die Verletzlichkeit der Akteure des globalen Kunstbetriebs. In die Vorbereitungen der Kunstaktion – nackte Mädchen in Langhaarperücken und hochhackigen Schuhen sollen sich stumm in einem historischen Gewächshaus auf einem Erdhügel präsentieren - brechen unterschiedliche Lebens- und Liebesgeschichten. Ab und zu blitzen in dieser „geschlossenen Gesellschaft“ Erinnerungen an Geschichte und Kultur Chinas und Shanghais auf. Noch überwiegt der unbedingte Glaube an Rasanz und Veränderung, die Personen agieren wie Teile eines Kunstprojekts, kleiden sich in einer Boutique neu ein: „Denn wir hatten es uns verdient, einfach, weil wir so hart gearbeitet hatten und nun in diesen verdammt teuren Kleidern so gut aussahen, ja, weil wir uns überhaupt, auf der ganzen Erde so gut machten, egal wo wir uns befanden, ob in Europa oder Amerika oder dem fernen Osten.“ (246) Folgerichtig tauchen immer wieder Namen der realen Kunst-, Medien- und Modewelt auf. Den Zielen der Kunst („Freiheit“) werden die Bedürfnisse der Menschen untergeordnet. Auf der Party nach der erfolgreich verlaufenen Performance wird die Welt des schönen Scheins durch die Vergangenheit des realen Lebens der Künstlerin zerstört. . .
A.Vivaldi, François Morellon de La Cave (1723)
Tiziano Scarpa. Stabat mater. (Übersetzung: Olaf M.Roth) 2009
Als Einstimmung zur Lektüre sei der Hörgenuss bei Vivaldis Vertonung (als Interpret: Philippe Jaroussky) dieses aus dem 13. Jh stammenden 10-strophigen Gedichts in lateinischer Sprache empfohlen. Auch in der bildenden Kunst kommt das Motiv der Mater Dolorosa sehr häufig vor (Tizian).
Der 1963 in Venedig geborene Autor lässt seinen Roman im 18. Jh spielen. Bereits die Zeitgenossen lobten die hohe musikalische Qualität der Konzerte in den „Ospedali“, von Klöstern geführten Waisenhäusern, in den begabte Mädchen eine musikalische Ausbildung erhielten. Im Ospedale della Pietà am Riva degli Schaivoni wächst die kleine Cecilia heran. Eine neue Welt eröffnet sich ihr, als Antonio Vivaldi als Violinlehrer ihr Talent entdeckt. . .
»Antonio Vivaldi. Der rote Priester«
Hörbuch der Reihe »Musikgeschichten«. Ab einem Alter von 7 Jahren gibt diese CD gute Einblicke in die Welt der musikalischen Waisenmädchen und ihres berühmten Lehrers.
Die Anregungen stammen von der Bildungsreise „Venezia ist eine Frau“.
http://www.bennewitz-frauengeschichte.de/
»Gedruckt werde ich viel«, sagte der 1897 im nö. Weinviertel geborene Theodor Kramer im Jahre 1930 und beschloss »von seiner Feder« zu leben. In Zeitschriften, im Rundfunk und ersten Bändchen wurden seine Gedichte im Volksliedton mit alle Menschen berührenden Inhalten rezipiert. Ab 1933 kamen ihm alle Publikationsmöglichkeiten in Deutschland abhanden. 1938 musste er seine Wiener Wohnung verlassen und bekam Berufsverbot. Das Gedicht »Wer läutet draußen an der Tür?« vermittelt uns bis heute seine Situation. Mit Unterstützung Thomas Manns gelang ihm die Flucht nach London, wo er bis 1957 lebte. 1958 starb der Verfasser tausender Gedichte fast völlig vergessen in Wien.
1984 wurde die Theodor Kramer Gesellschaft gegründet, die es sich bis heute zur Aufgabe macht, Literatur und Kultur der Menschen im Exil ins Bewusstsein der Gegenwart zu rücken. www.theodorkramer.at
Der in Wittenberg geborene Hans-Eckardt Wenzel veröffentlichte mit seiner 2006 erschienenen CD »Vier Uhr Früh« weitere hervorragende musikalische Interpretationen einiger Theodor Kramer Gedichte.
Katsushika Hokusai »Die große Welle vor Kanagawa« (1830)
Deutsche Anti-Atom-Lyrik
Ingeborg Bachmann. (1926 – 1973) Unter dem Eindruck der Auswirkungen des Abwurfs der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verfassen die Autorin und andere Mitglieder der „Gruppe 47“ Gedichte und engagieren sich politisch im Komitee gegen die Atomrüstung.
Im Gedicht »Freies Geleit« ist zu lesen:
Die Erde will keinen Rauchpilz tragen,
kein Geschöpf ausspeien vorm Himmel,
mit Regen und Zornesblitzen abschaffen
die unerhörten Stimmen des Verderbens.
Aus: I. B., Werke Band 4, München 1978
http://home.bn-ulm.de/~ulschrey/
Hans Magnus Enzensberger. Der 1929 geborene Dichter, Essayist, Herausgeber, Übersetzer etc. schenkt uns zu seinem 80. Geburtstag die Gesamtschau seiner Gedichte 1950 – 2010. (http://oe1.orf.at/programm/256722)
Eine Stimmung des Weltuntergangs vermittelt das Gedicht »das ende der eulen«
ich spreche von euerm nicht,
ich spreche vom ende der eulen,
ich spreche von butt und wal
in ihrem dunklen haus..
Aus: h.m. enzensberger. landessprache, Frankfurt/M. 1960
Japan und die deutschsprachige Literatur
Josef Winkler. Roppongi. Requiem für einen Vater. Novelle (2007)
"Als ich mich vor drei Jahren mit meiner Familie in Tokio aufhielt, wo wir im Stadtteil Roppongi wohnten", schreibt Josef Winkler über sein neues Buch, "starb im Alter von 99 Jahren mein Vater, der mir ein Jahr vor seinem Tod, nachdem er erfahren hatte, dass ich in meinem letzten Prosaband einem Bauern aus meinem Heimatdorf weder Kornblumen noch Pfingstrosen gestreut hatte, in einem kurzen, aber dramatischen Telefonmonolog mitteilte, dass, wenn es soweit sei, ich nicht zu seinem Begräbnis kommen solle. Als wir von seinem Ableben erfuhren, stand ich in der österreichischen Botschaft in Tokio vor einer wandgroßen Glasscheibe. Ich schaute hinaus auf einen Teich mit orangefarbenen Wakinfischen, als ein Reiher mit weit auseinandergebreiteten Flügeln am Rande des Teiches aufsetzte. Der tote Vater hat sich also, dachte ich in diesem Augenblick der Trauer und des Glücks, in der Gestalt eines weißen Reihers noch einmal bei mir blicken lassen, bevor er unter die Erde geschaufelt wird mit seinen langen, dünnen roten Beinen, mit seinem erdig gewordenen spitzen langen Schnabel, auf der Suche nach den Würmern seines zukünftigen Grabes in Roppongi. Sein Fluch war in Erfüllung gegangen; wir reisten nicht zurück, sondern blieben in Roppongi." http://www.perlentaucher.de/buch/28014.html
Gerhard Roth. Der Plan. (1998)
Ein Mitarbeiter der Österreichischen Nationalbibliothek will ein Autograph Mozarts illegal an einen Sammler in Japan verkaufen. Als Tarnung dient ihm eine Vortragsreise. Die Kriminalhandlung fesselt bis zur letzten Zeile. Die Beschreibung der für Europäer noch immer so fremden und geheimnisvollen Welt bleibt eine unvergessliche Leseerinnerung.
Zum Wiederlesen: Adolf Muschg. Im Sommer des Hasen. (1965)
1962 reiste der junge Schweizer Germanist Adolf Muschg auf dem Seeweg nach Japan. Nach seiner Tätigkeit als Universitätslektor finden seine Eindrücke Eingang in einen bis heute viel gelesenen Roman:
Auf der Seite des Suhrkamp-Verlages findet sich folgende Beschreibung:
Adolf Muschg erzählt in seinem Roman von Personen, denen ein Reisestipendium gewährt wird und die so in den Genuß eines japanischen Sommers kommen. Unter den Geschichten der Reisenden, die der Erzähler in seinen Bericht an den Freund verwebt, findet sich eine Liebeserzählung von großer Anmut und Traurigkeit, die man nicht wieder vergessen wird. www.suhrkamp.de
2005 erschien der Roman „Eikan, du bist spät, dessen Titel sich auf eine buddhistische Legende bezieht. Wieder treffen Menschen der beiden Kulturkreise zusammen. Das Cellospiel (J.S. Bach. Suiten für Violoncello) verbindet und trennt. Ein Bildungsroman mit viel Geheimnisvollem.
Lesenswert auch das folgende aktuelle Interview: Das Wichtigste wird nicht gesagt. Der Standard. 16. März 2011.
Immer interessant: Die monatliche, kommentierte Liste literarischer Texte aus aller Welt: http://www.swr.de/bestenliste
Diesmal an erster Stelle: Arno Geiger. Der alte König in seinem Exil.
Sofi Oksanen. Fegefeuer. (Estnisch: Pudhistus= Reinigung, Säuberung)
„Aliide Truu starrte die Fliege an, und die Fliege starrte zurück“, so beginnt das Kapitel „Die Fliege siegt immer“ des inzwischen in 25 Ländern erscheinenden Romans (in fünf Teilen) der jungen Finnin mit Mutter aus Estland –
Sofi Oksanen.
1992 wird die ältere der beiden weiblichen Hauptpersonen in der Küche ihres ehemaligen Bauernhauses bei den Arbeiten zur Vorratswirtschaft gestört. Die Fliege entwickelt Strategien ihr zu entkommen. Wir kennen die Situation. Doch in diesem Fall spiegelt sie das Verhalten von Menschen, die gezwungen sind, sich auf Eines zu konzentrieren: in den sich ständig ändernden politischen Verhältnissen irgendwie zu überleben. (Nach erlittener Gewalt und lähmender Angst gehören dazu auch Kollaboration mit den politischen Machthabern und Denunziation.) Mit dramaturgischer Meisterschaft wird eine Familientragödie bis zum Jahre 1936 aufgerollt.
Innenräume (die Küche, der Keller der Gemeindeverwaltung, Verstecke), das Dorf und seine Umgebung, die Wälder (sie dienen den „Waldbrüdern“ als Versteck, die Besitzfrage spiegelt die politischen Verhältnisse) bilden die Kulissen für Gedanken und Empfindungen der Figuren.
Die Landkarte wird bis Wladiwostok erweitert, wohin die Schwester und deren Kind deportiert werden. Zara, die Enkelin der Schwester, ist die zweite weibliche Stimme des Romans. Sie gelangt über Berlin, wo sie den Beginn eines besseren Lebens erhoffte, wieder zurück nach Estland zum Haus der Großmutter. Bald muss auch sie in einem Versteck untertauchen.
Beklemmend, poetisch und brutal ist die Sprache der kunstvoll ineinander verwobenen Kapitel mit Zeit-, Ortsangaben und „Schlagzeilen“. An perfekt kalkulierten Stellen stehen mit Datum versehene Eintragungen in ein Heft, das Hans Eerikssohn Pekk unter den Dielen seines Verstecks aufbewahrt. Der vierte Teil stellt die Verbindung von Aliides aussichtsloser Liebe zu ihren folgenschweren Entschlüssen von 1992 her. Der fünfte Teil beginnt mit Hans´ Eintragung vom 25.8.1950. Über Briefe, die er jemandem abgenommen hat, steht zu lesen: Es wäre nicht gut, wenn jemand sie fände. Für solche Briefe kommt man nach Sibirien, auch wenn sie schon in den Dreißigerjahren abgeschickt worden sind ... Die anschließenden KGB-Dokumente von 1946 bis 1951 konterkarieren die bisherige Romanhandlung. Der Agentin „Fliege“ trauen die Machthaber. Den Schluss des Romans bildet Hans´ Eintragung vom 5.10.1951.
Ein Glossar, zusammengestellt von Angela Plöger, der Übersetzerin des Romans, und Grundkenntnisse über die leidvolle Geschichte Estlands helfen, Andeutungen und poetische Verschlüsselungen in einen historisch-politischen Rahmen einzuordnen.
Zum 80. Geburtstag: Nur ein toter Thomas Bernhard ist ein . . .
»Das Problem ist immer, mit der Arbeit fertig zu werden, in dem Gedanken, nie und mit nichts fertig zu werden. . , es ist die Frage: weiter, rücksichtslos weiter, oder aufhören, schlußmachen . . . es ist die Frage des Zweifels, des Mißtrauens und der Ungeduld.«
Ansprache bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises. Aus: Meine Preise. (2009)
Wer die medial inszenierte, ungustiöse »Erregung« anlässlich der Uraufführung von »Heldenplatz« am Wiener Burgtheater (ein Auftragswerk zum Bedenkjahr 1988) noch deutlich in Erinnerung hat, wird in diesen Tagen eine gewisse Genugtuung empfinden. Im Februar 2011 wäre Thomas Bernhard 80 Jahre alt geworden. Die meisten Medien präsentieren seriöse Würdigungen des »Übertreibungskünstlers«. Wie oft werden Textstellen wie die folgende in Bad Ischl im Rahmen von Reifeprüfungen analysiert: »Der Mensch muss schon sehr stark sein, um sich hier behaupten zu können. Das Salzkammergut ist herrlich für ein paar Tage, aber es ist vernichtend für jeden, der länger bleibt . . .« Aus: Wittgensteins Neffe (1982) S.84/85.
Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? lautet der Titel eines frühen Prosatextes von Thomas Bernhard, der sich wie ein Leitmotiv durch viele seiner Werke zieht. Tonfall und Mimik des Autors in den berühmten Interviews, die er auf Mallorca Krista Fleischmann gab, geben Deutungshilfen.
Ein lesenswerter Beitrag des Salzburger Germanisten Hans Höller:
http://derstandard.at/1296696381275/Sprache-und-Lebensform
Das Erdbeben von Lissabon 1755
Spuren in der deutschsprachigen Literatur
Diese Naturkatastrophe, die auch im Mittelmeerraum und bis nach Finnland spürbar war, beschäftigte nicht nur Naturwissenschaftler, Theologen und Philosophen. Auf den damals sechsjährigen Goethe machten die Gespräche über die Zerstörung der prächtigen Hafenstadt einen so großen Eindruck, dass dieses „außergewöhnliche Weltereignis“ Eingang in den ersten Band „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ (1811) und in Faust II. (1832) fand. www.wikipedia.org
Heinrich von Kleist bezieht sich in seiner Novelle „Das Erdbeben in Chili“ (1807) auf das Erdbeben von 1647 in Chile. Das dramatische Schicksal zweier Liebender gibt vor allem Einblick in die politischen und gesellschaftlichen Diskurse der Entstehungszeit und die Erinnerung an die Katastrophe von 1755.
Lesenswert: http://derstandard.at/1295570809914/Mit-Kinderkoepfen-gegen-Kirchensteine
Heinrich von Kleist geb. 1777 in Frankfurt an der Oder, gest. 1811
Im November 1811 setzte dieser außergewöhnliche Dichter seinem und dem Leben einer jungen Frau am Wannsee in der Nähe von Potsdam ein Ende. Die Beschäftigung mit seiner Biografie zeigt einen jungen Mann, den Familiengeschichte und politische Ereignisse in stete persönliche Konflikte katapultierten. Dies mag eine der Erklärungen dafür sein, dass seine literarischen Figuren bis heute so faszinieren.
Zunächst seien zwei Novellen erwähnt: Die Marquise von O. (1807) und Michael Kohlhaas (1810). Beide Hauptfiguren geraten unverschuldet in Konflikt mit der Gesellschaft und versuchen ganz im Sinne der Ideen der Aufklärung ihren Weg als Individuen zu gehen. Der Aufbau der Handlung, die Intensität der Sprache und die wie Mini-Dramen mathematisch-logisch gebauten Satzkonstruktionen beeinflussten viele Autoren späterer Generationen.
Diese beiden Novellen inspirierten Regisseure wie Eric Rohmer und Volker Schlöndorff zu hervorragenden Filmkunstwerken.
Reizvoll ist es auch Kleist als literarischer Figur zu begegnen: Christa Wolfs. Kein Ort. Nirgends (1979) handelt von einer fiktiven Begegnung des Autors mit der bekannten Dichterin der Romantik, Karoline von Günderode. (Diesen Text gibt es auch als Hörbuch, zum Genießen z.B. während einer Zug- oder Autofahrt.)
Auf vielen Spielplänen deutschsprachiger Stücke finden sich Stücke von Heinrich von Kleist.
Peter Steins Inszenierung am Berliner Ensemble (Direktor Claus Peymann, bis 1956 Bert Brecht) der Komödie „Der Zerbrochene Krug” brachte es bis zur Einladung zu den Wiener Festwochen 2009. Besonders gelobt wurde die schauspielerische Leistung Klaus Maria Brandauers als Dorfrichter Adam. (Die unter der Regie Goethes 1808 erfolgte Uraufführung in Weimar geriet wegen der gravierenden Eingriffe des „Dichterfürsten” in das Werk des jungen Kollegen zum Misserfolg. Interessant zu diesem Thema die Seite des Goethe-Instituts.)
Ein besonderer Leckerbissen ist bis heute ein Stück, das auf einem griechischen Stoff basiert. Kleist gab ihm den Untertitel „Lustspiel nach Molière”, da er ursprünglich eine Übersetzung aus dem Französischen vorhatte. Am Wiener Akademietheater ist die viel bejubelte Inszenierung des neuen Burgtheaterdirektors Matthias Hartmann aus seiner Züricher Zeit zu sehen. Das Spiel zwischen Sein und Schein und die wechselnden Identitäten halten auch uns Menschen des 21. Jahrhunderts schonungslos komisch den Spiegel vor.
Alle besprochenen Texte sind auch online zu lesen unter: http://gutenberg.spiegel.de
Als Einstieg für die eigene Recherche eignet sich folgende Adresse:
www.dieterwunderlich.de
Doron Rabinovici. »Andernorts«
Wer je einen journalistischen Beitrag des 1961 in Tel Aviv geborenen und seit 1964 in Wien lebenden Autors gelesen hat, wird sich mit großem Gewinn auch seiner literarischen Begabung anvertrauen. Fühlen wir zunächst mit einem Wissenschafter mittleren Alters und seinem Kontrahenten, finden wir uns bald in einem dichten Netz unterschiedlichster Personen in Österreich und Israel wieder. Mit Humor und Melancholie erhalten wir Einblick in eine Familiengeschichte, die immer rätselhafter wird und die beiden Kontrahenten zu Entscheidungen zwingt.
www.rabinovici.at/buecher_andernorts.html
www.rabinovici.at/bio_thomas_kraft.html Beitrag im Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur.
Monika Maron. »Ach Glück«. Roman (2007)
Den ersten Satz des Romans schreibt eine fast 90-jährige Frau mit dem Namen Natalia Timofejewna in einem Internet-Café in Mexico City: „Fassen Sie sich ein Herz . . ., meine Liebe, und kommen Sie her.“ Wir begleiten Johanna während des Flugs in ihren Gedanken und Erinnerungen an ihre DDR-Zeiten, die Jahre nach der „Wende“, hören ihrem Gatten, dem Kleistforscher Achim, zu. Wir lernen ihre Freundin Elli und den Galeristen Igor kennen. Eine längst vergessene Saite an ihr scheint ein Hund zum Klingen zu bringen. Sie nennt ihn Bredow nach der Autobahnausfahrt, an der sie ihn los gebunden hat. In diese uns im Grunde vertraute Welt dringen die Erinnerungen aus Natalias Briefen: An ihre verschwundene Freundin Leonora (Leonora Carrington), die in Paris als Künstlerin die Surrealisten André Breton und Max Ernst gekannt hat. An die Bekanntschaft mit Frida Kahlo und Trotzkij.
Das Buch endet, als Johanna am Flughafen den „breitkrempigen, knallroten Hut“ Natalias erblickt. Es bleibt die Hoffnung, dass nach den „Endmoränen“ und dem Roman „Ach Glück“ die Trilogie vollendet wird.
h.c.artmann zum 10. todestag sollte wieder einmal einer seiner vielfältigen texte hervor geholt werden. Und zwar nicht nur aus „med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee“ (1958).
sehr zu empfehlen sind auch diverse Hör-CDs,
die Texte gelesen von Helmut Qualtinger.
Herta Müller. Trägerin des Literaturnobelpreises des Jahres 2009
Mir öffnete die Ausstellung im Literaturhaus München den Zugang zu ihren Texten. Grundlegende Kenntnisse über die Geschichte Rumäniens und der deutschsprachigen Bevölkerung des Banats sind hilfreich. Sehr aufschlussreich sind auch die Tondokumente, in denen die Autorin von ihren Überlegungen zu den verschiedenen Sprachen spricht. Unvergleichlich ihre Sprachmelodie beim Erzählen.
Wer das Werk „Die Atemschaukel“ kennen lernen möchte, dem sei die Audio-CD empfohlen. Ulrich Matthes bringt die Kapitel in ihren unterschiedlichsten Stimmungslagen zum Klingen.
Wladimir Kaminer. Wer übersehen hat, dass es ein weiteres Buch gibt, der sei auf „Meine kaukasische Schwiegermutter“ hin gewiesen.
Selbstverständlich eignen sich auch seine „Klassiker“, wie z.B. „Russendisko“, zum ständigen Wieder-Lesen. Übrigens, es gibt auch Mitschnitte von Lesungen in diversen Audio-Books.
Melinda Nadj Abonji, geb. in der serbischen Vojvodina als Angehörige der ungarischen Minderheit, lebt heute in der Schweiz. Sie ist die Trägerin des Deutschen Buchpreises des Jahres 2010.
Ihr Buch „Tauben fliegen auf“ faszinierte mich wegen seiner Vielfalt an Stimmungslagen zwischen Kindheitserinnerungen, Schrecken über den Balkan-Krieg der 1990-er Jahre, Empörung über die immer wieder erlebte Verachtung von Menschen ihres Gastlandes, das schon längst ihre Heimat ist . . .